Souveräne Schwindsucht

Das Traumpaar Anna Netrebko und Rolando Villazón brillierte vor einem Jahr mit "La Boheme" in München. Ab Freitag sind die CDs im Handel. Wie sich die Live-Eindrücke wiederholen.
von  Abendzeitung

MÜNCHEN - Das Traumpaar Anna Netrebko und Rolando Villazón brillierte vor einem Jahr mit "La Bohème" in München. Ab Freitag sind die CDs im Handel. Wie sich die Live-Eindrücke wiederholen.

Ein Traumpaar, das sind, oder besser, waren, Anna Netrebko und Rolando Villazón vor einem Jahr in der Münchner Philharmonie. In einer konzertanten Aufführung von „La Bohème“ brillierten sie auf manchmal unwiderstehliche Weise: die russische Diva im blauen Abendkleid, prächtig bei Stimme, der mexikanische Ausnahmetenor voller bewegender Emotionen. Die DG schnitt mit. Ab heute sind die CDs im Handel.

Die Live-Eindrücke wiederholen sich. Als Mimi, die bekanntlich nach zwei wunderbaren Opernstunden an Schwindsucht zu sterben hat, ist Anna Netrebko stimmlich fast zu gesund. Doch die Souveränität, mit der sie alle Klippen mühelos umschiffte, macht auch über die Lautsprecher mächtigen Eindruck. An Ausdrucksvielfalt waren ihr einst Victoria de los Angeles in der von Sir Thomas Beecham dirigierten Einspielung oder Mirella Freni in Karajans Luxus-Aufnahme zumindest ebenbürtig.

Stimmprobleme

Rolando Villazóns Rodolfo präsentierte seine Gefühle erheblich drastischer. Was man ihm enthusiastisch als leidenschaftliche Herz-Schmerz-Allüre gerne abnahm, outet sich ein Jahr später wohl auch als ein Teil jener Stimmprobleme, die ihn kurz danach zu einer Auszeit zwangen, von der er sich bis heute nicht vollständig erholt hat.

Hinreißend der Chor des Bayerischen Rundfunks, souverän, aber auch ein wenig neutral das BR-Symphonieorchester. Dirigent Bertrand de Billy nahm auf die angeheuerten Welt-Stars hörbar Rücksicht. Nur: Herbert von Karajan oder Sir Thomas Beecham waren ebenfalls Kavaliere, wenn es darum ging, ihren Protagonisten das Leben zu erleichtern – und haben dabei auch musikalische Inhalte mit grandioser Eindringlichkeit vorgeführt.

Sternstunden unter Carlos Kleiber

Routinier Bertrand de Billy gegen den Rest der Welt: Wer einmal in Antonio Pappanos Aufnahme der „Bohème“ mit Leontina Vaduva und Roberto Alagna hineinhört, der merkt schnell, was ein in Puccini hemmungslos verliebter Dirigent aus dieser Musik alles herauszuholen vermag. Und als Münchner erinnern wir uns ja auch noch an die Nationaltheater-Sternstunden unter Carlos Kleiber. Mit ihm hätte die Deutsche Grammophon gerne die „Bohème“ aufgenommen. Und der Maestro war sogar dazu bereit. Geduldig wartete er in einem Mailänder Hotel auf den Tenor. Der hieß Plácido Domingo, hatte aber keine Lust auf Proben. Es kam, wie es kommen musste: Kleiber packte die Koffer und reiste ab – und das war’s dann auch. Ein halblegaler Mailänder Mitschnitt von 1978 mit Ileana Cotrubas, Luciano Pavarotti und Lucia Popp lässt nur ahnen, wozu der exstatische Maestro an guten Abenden fähig war.

Volker Boser

Puccini: „La Bohème“, mit Anna Netrebko, Rolando Villazón, Nicole Cabell u. a. (DG)

CD TOP TEN LA BOHEME

Schon 1930 erschien die erste Gesamtaufnahme von „La Bohème“ mit Solisten der Mailänder Scala. Auch Arturo Toscanini, der 1896 die Uraufführung in Turin leitete, nahm die Oper ein halbes Jahrhundert später in New York auf. Hier unsere persönliche Liste der zehn schönsten Einspielungen.

1. KARAJAN, PAVAROTTI, FRENI (DECCA, 1971)
Purer Luxus mit den Berliner Philharmonikern
2. BEECHAM, DE LOS ANGELES, BJÖRLING (EMI, 1956)
Ein feinfühliger Maestro und ein Paar der Gegensätze
3. SERAFIN, TEBALDI, BERGONZI (DECCA, 1959)
Der Klassiker mit einem stilistisch perfekten Tenor
4. VOTTO, CALLAS, DI STEFANO (EMI, 1956)
Die Callas kämpft als Mimi, statt zu leiden
5. LEINSDORF, MOFFO, TUCKER (RCA, 1961)
Noch ein stimmlich perfektes Paar der Kontraste.
6. TOSCANINI, ALBANESE, PEERCE (RCA, 1946)
Spannung plus Emotion, aber leider klanglich gealtert
7. PAPPANO, VADUVA, ALAGNA (EMI, 1995)
Der Dirigent lässt sich Zeit für Gefühle
8. KLEIBER, COTRUBAS, PAVAROTTI (OPERA LIVE, 1978)
Halblegaler Mitschnitt. Lucia Popps Musetta enttäuscht
9. DAVIS, RICCIARELLI, CARRERAS (PHILIPS, 1978)
Gute Hauptdarsteller, anfechtbares Umfeld
10. DE BILLY, NETREBKO, VILLAZÓN (DG, 2008)
Glamour und eine Menge wunderbarer Gesangskunst

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