Simone de Beauvoir - zum 100. Geburtstag

Deutschland feiert Simone de Beauvoir. Das visionäre Werk der Philosophin, Feministin und Liebhaberin wird neu entdeckt.
von  Abendzeitung

Deutschland feiert Simone de Beauvoir. Das visionäre Werk der Philosophin, Feministin und Liebhaberin wird neu entdeckt.

VON RENATE SCHRAMM

Biographien, TV-Porträts, Filmfestivals, Hörspiele, Ausstellungen, Kongresse, Dokumentationen, Lesungen: Deutschland feiert heute den 100. Geburtstag von Simone de Beauvoir. Als wäre es höchste Zeit, ihr visionäres Werk wieder oder neu zu entdecken - nach all den Mutterkult-Machwerken und traditionalistischen Theorien.
"Man wird nicht als Frau geboren, man wird es." Mit dem Schlüsselsatz aus ihrer Feminismus-Bibel "Das andere Geschlecht" von 1949 wird sie zur Wegbereiterin und -begleiterin für Generationen von Frauen. In dem 715-Seiten-Essay, das in 100 Sprachen übersetzt wurde und auf dem Index des Vatikans landete, legt sie akribisch dar, wie Männer die Welt beherrschen und Frauen fremdbestimmen. Damit liefert sie den Überbau für die deutsche Frauenbewegung, wird zum Vorbild von Alice Schwarzer.

Ein Vorbild, das die Augen öffnet

1970 treffen sich die beiden in Paris und werden Verbündete, Freundinnen. Zum Festtag bilanziert Schwarzer in zwei Büchern, wie relevant 2008 die Thesen ihrer geistigen Mutter sind ("Simone de Beauvoir - Lesebuch mit Bildern", Rowohlt; "Simone de Beauvoir - Weggefährtinnen im Gespräch", Kiwi). Ihr Resümee: "Beauvoir gibt Antworten auf Fragen, die wir uns heute wieder stellen" - nach den gleichen Chancen, Rechten und Pflichten für Frauen wie Männer. Zwar sei "ihr Erbe nicht auf den feministischen Aspekt zu beschränken. Doch es gibt keine Zeile, die nicht durchdrungen wäre von der Tatsache, dass sie eine Frau ist in einer Männerwelt." Eine Frau, die aber nie ein Mann sein wollte. Die sich die Haare hochsteckt und die Fingernägel rot lackiert.
Friedel Schreyögg, Leiterin der Münchner Gleichstellungsstelle, hat "Das andere Geschlecht" Anfang der 60er gelesen, als 19-jährige Klosterschülerin: "Es war wie eine Offenbarung und grosse Ermutigung, dass ich mit meinen Wünschen nach einem selbstbestimmten Frauenleben nicht allein dastand." In diesen Tagen liest Schreyögg den Klassiker erneut, empfiehlt ihn besonders Berufs-Einsteigerinnen: "Im Job werden Frauen noch immer benachteiligt. Das muss man erkennen und handeln. Beauvoir öffnet einem dafür die Augen."

Begegnung mit dem "Doppelgänger"

Und nicht nur dafür. Neben ihren Essays, Romanen und Memoiren hat Simone Ernestine-Lucie-Marie-Bertrand de Beauvoir Millionen Frauen bewusst gemacht, dass Heim und Herd nicht alles sein müssen. Die Pariser Anwaltstochter (Standardspruch ihres Vaters: "Eine Frau ist das, was ein Mann aus ihr macht") ist ihrer Zeit stets voraus. Mit vier bringt sie sich das Lesen bei, möchte schon bald Schriftstellerin werden. Erkennen und schreiben, das wird ihre Lebensdevise. Sie studiert Philosophie und absolviert die Eliteschule ENS als Zweitbeste. 1929 begegnet sie Jean-Paul Sartre, ihrem drei Jahre älteren "Doppelgänger, in dem ich alles wiederfand, wovon ich auch selbst besessen war". Eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts beginnt.

Zufallslieben mit Staubsaugerkräften


Sie und Sartre, der 1964 den Nobelpreis für Literatur als "Symbol der bürgerlichen Kultur" ablehnt, werden das Vorzeige-Paar der Intellektuellen. Sie siezen sich, wohnen getrennt, arbeiten und reisen oft gemeinsam. Im Lauf der Jahre engagieren sie sich verstärkt politisch - beim algerischen Unabhängigkeitskrieg wie bei den 68er-Revolten.
Lange davor schliesst er mit ihr seinen legendären Pakt: "Bei uns beiden handelt es sich um eine ,notwendige Liebe'. Was die ,Zufallslieben' nicht ausschliessen sollte." Ein Freibrief fürs Fremdgehen, mit der Auflage, sich alles zu beichten. Sartre ist da enthemmter. So schreibt er ihr im Juli 1938: "Gestern habe ich dieses feurige Mädchen geküsst, und sie hat mit der Kraft eines elektrischen Staubsaugers an meiner Zunge gesaugt, so dass es mir jetzt noch wehtut." Bei allen pikanten Details vergisst er niemals, "Biber" (französisch "Castor") - sein Spitzname für die unermüdlich Kreative, sie nennt ihn "lieber Kleiner" - seine Liebe zu beteuern.

Er streichelte gern, sie war leidenschaftlich


Fürchtet sie nie, den notorischen Schürzenjäger an eine andere zu verlieren? In ihren Memoiren reflektiert sie über "die Seelenqual, die ich empfand". Zu Alice Schwarzer aber sagt sie: "Wir waren intellektuell viel zu selbstbewusst, um uns zu sorgen, dass eine andere Person wichtiger sein könnte." Ausserdem habe Sartre der "sexuelle Akt im engeren Sinn nicht sonderlich interessiert. Er streichelte gern. Ich war sehr leidenschaftlich."
Ihre grösste Leidenschaft lebt sie mit dem amerikanischen Autor Nelson Algren ("Der Mann mit dem goldenen Arm"). Bei ihrer Vortragsreise 1947 in Chicago verlieben sie sich stürmisch. In ihren Briefen nennt sie ihn "mein kostbar geliebter Mann" und sehnt sich nach seinen "starken, sanften, gierigen Händen". Bei ihm, so bekennt sie hinterher, erlebt sie ihren ersten Orgasmus.
Er möchte sie heiraten und nach Amerika holen. Doch nach vier Jahren Hin- und Herfliegerei entscheidet sie sich gegen ihr Herz und für Sartre. "In Wirklichkeit ist er sehr einsam", schreibt sie Algren. "Ich bin der einzige Mensch, der ihn wirklich versteht." Er brauche ihren Zuspruch, ihre Nähe und erwarte, dass sie ihm bei politischen Aktivitäten zur Seite stehe.

"Mein Tod wird uns nicht wiedervereinen"


Ausgerechnet die nach Unabhängigkeit strebende Feministin ist abhängig von einem Mann. Das empört viele Frauen noch heute. Die Beauvoir-Biografin Ingeborg Gleichauf ("Sein wie keine andere", dtv) erlebt das derzeit in ihren Lesungen: "In den Diskussionen danach wird Beauvoir ihre Unfreiheit vorgeworfen. Von einem Vorbild wie ihr wird erwartet, dass es auch in der Liebe vorbildhaft ist, die Gefühle lebt. Sie aber steckt sie für Sartre zurück, passt sich an." Widersprüche, die Gleichauf versteht: "Die Gesprächserotik mit Sartre war Beauvoir wichtiger als alles."
Mit den Jahren freilich entzieht sich der erblindende Sartre seiner Biber-Frau. Jüngere machen ihr den angestammten Platz bei ihm streitig. Beiläufig erfährt sie, dass er seine frühere Geliebte, eine algerische Studentin, adoptiert hat. Das bedeutet für Beauvoir, die immer als Erste seine Texte gelesen und lektoriert hat, nicht sie, sondern die Andere wird einmal seinen Nachlass verwalten.
Nach Sartres Tod 1980 erhält Beauvoir kein einziges Erinnerungsstück an ihren Gefährten. Sie verfällt in Apathie und Weinkrämpfe, betäubt sich mit Alkohol und Valium. Wie so oft holt das Schreiben sie zurück ins Leben. In "Die Zeremonie des Abschieds" (von Sartre) stellt sie nüchtern fest: "Sein Tod trennt uns. Mein Tod wird uns nicht wiedervereinen. Schön ist, dass unsere Leben so lange harmonisch vereint sein konnten."
Ihre engste Vertraute ist jetzt die 33 Jahre jüngere Sylvie Le Bon, einst Beauvoirs Philosophie-Schülerin. Ihre lebenslange Bisexualität - etliche ihrer Liebhaberinnen hat sie mit Sartre geteilt - wird erst posthum publik, als Erbin Le Bon 1990 Beauvoirs Briefe an Sartre veröffentlicht. Da ruht die Philosophin schon vier Jahre auf dem Friedhof Montparnasse, im Grab vereint mit Sartre und beerdigt mit dem Silberring ihrer grossen Liebe Nelson Algren. Am 14. April 1986 erlag sie einem Lungenödem.

Männerdämmerung nach zwei Jahrzehnten


Zwei Jahrzehnte danach hat in vielen Chefetagen die Männerdämmerung eingesetzt. Die Enkelinnen der Grande Dame der Gleichberechtigung haben Chancen wie nie. "Um heute Feministin zu sein, muss eine junge Frau Beauvoirs Bücher nicht gelesen haben. Aber es lohnt sich", sagt die Wahl-Münchnerin Susanne Klingner (29), eine von drei Autorinnen des Buchs "Wir Alphamädchen - warum Feminismus das Leben schöner macht" (ab März bei Hoffmann und Campe). "Ihre Gedanken sind uns teilweise näher als die von Alice Schwarzer aus den 70ern. Da galt Sexualität als Penetration, waren Männer die Täter und Frauen die Opfer oder Kampf-Lesben. Wir wollen Männer, die sich mit uns emanzipieren, damit wir Job und Familie verbinden können. Ein selbstbewusstes Frauenleben kann man auch mit einem Mann leben. Beauvoir hat's vorgemacht."

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