Schuberts himmlische Längen
Herkulessaal: Herbert Blomstedt dirigierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Er hat eine riesige Fan-Gemeinde und wenn Bariton Matthias Goerne sich der melancholischen Tränen Gustav Mahlers in den „Kindertotenliedern“ erbarmt, dann ist immer wieder zu spüren, zu welcher Intensität dieser Sänger fähig ist, wie er sich Ausdruck und Empfindung in beklemmend gestalteter Unruhe erkämpft. Dass diesmal Wünsche offen blieben, lag daran, dass der Gast am Pult des BR-Symphonieorchesters, Herbert Blomstedt (82), möglicherweise anderer Auffassung war.
Schon der Beginn des ersten Liedes („Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n“) wurde von Oboe und Horn sehr neutral gestaltet. Der verhaltene Schmerz, vom Sänger stets sehr deutlich artikuliert, fand in den begleitenden Orchesterpassagen nicht immer jene Entsprechung, die auf eine gleich empfundene Intensität schließen ließ.
Auch in Schuberts Großer C-Dur-Symphonie überraschte, wie sachlich kühl die einleitenden Hornrufe erklangen. Da war nichts zu spüren von Sehnsucht oder einer Neugier auf das, was sich in den kommenden Takten ereignen wird. Bald wurde indes klar, dass diese Zurückhaltung aus Absicht geschah: Blomstedt setzte auf die Überzeugungskraft einer Interpretation, die sich alle eitlen Effekte verkniff und dem Komponisten stets das letzte Wort gab. Grandios inszenierte er jenen Moment, in dem ein verminderter Septakkord den langsamen Satz beinahe zum Absturz bringt.
Wie oft erklingt diese Stelle nur theatralisch beiläufig. Die strikt beachteten Wiederholungszeichen im ersten Satz führten dazu, dass die Aufführung beinahe eine Stunde dauerte – doch niemand im Herkulessal nahm Anstoß an den „himmlischen Längen“ Schuberts. Dirigent und Orchester wurden mit Ovationen gefeiert.
Volker Boser