Schöner Crash

John Chamberlain ist der Großmeister gepresster Blechskulpturen. In der Pinakothek der Moderne eröffnen sie den „American Summer” im Quartier – und setzen eine erstaunliche Fantasie in Gang
von  Christa Sigg

Medusa mit ihren wirren Schlangenhaaren schießt einem in den Sinn. Oder ist da nicht doch eine von Picassos großäugigen Gespielinnen mit Hut? Selten kurbelt Blech so sehr die Fantasie an. In dieser gnadenlos gequetschten, gedrehten, gefalteten Version wäre es zwar eher ein Fall für den finalen Abschleppdienst. Doch man kann schon verstehen, dass John Chamberlain es irgendwann satt hatte, in den Augen seiner Betrachter dauernd „Car Crashs”, Autounfälle, zu produzieren, um damit womöglich auch noch den Zeigefinger zu heben. Bloß, weil er eben mit alten Straßenkreuzern arbeitet.

Natürlich, der Koloss in Cremeweiß, Schwarz und Silber, der jetzt die Rotunde der dritten Pinakothek dominiert („Dejashmoozcoupe”) und den „American Summer” im Kunstareal mit einer gewissen Wucht eröffnet, will seine Wurzeln nicht verbergen. Die Heckklappen und Türen, die blank polierten Stoßstangen sprechen die Sprache des Alltags. Nur geht es dem New Yorker Künstler weder um das Statussymbol unserer hypermobilen Welt, noch ums Moralisieren. Autoblech ist einfach Chamberlains Marmor, die Autofriedhöfe sein Carrara.

Über das erste Auto fuhr er noch mit dem Lastwagen

Dass das Metall dabei „seinen eigenen Willen hat”, nicht bis ins Letzte formbar ist, wie er betont, mag den Reiz der bis zu fünf Meter hohen Skulpturenberge noch steigern. Etwas Ungewisses schwingt im Ergebnis. Vergleichbar seinen ersten Versuchen: Im Hinterhof des mit ihm befreundeten Jazzsaxophonisten Larry Rivers hat Chamberlain sein „Material” gefunden, das war in den späten 50er Jahren, und er traktierte dieses Auto damals mit einem Lastwagen. Heute ist die Schrottpresse im Einsatz, was sich wo genau faltet, weiß er immer noch nicht so recht, wichtig ist nur, „that it fit’s”, dass es passt. Und dafür hat der 84-Jährige ein erstaunliches Auge und einen noch besseren Sinn.

Nach einer langen Periode mit Werkstoffen wie Aluminium, Fiberglas oder Papiertüten – mit den Karosserien pausierte er ab Mitte der 60er aus den genannten „Car Crash”- Gründen – ist Chamberlain vor ein paar Jahren wieder zu seinen guten alten Autos zurückgekehrt. Sündteuer sind die alten Wagen inzwischen, die Stoßstangen müssen eigens hergestellt werden (was etwas vom Zauber nimmt). Aber die barocke Fulminanz, mit der die späten Blechgiganten daher kommen, ist beeindruckend. Und die Assoziationen nehmen kein Ende.

Lustvoll pflügt man durch die Geschichte der Skulptur

Selten verweist in der Abstraktion Verhaftetes so sehr auf das Figurative. Lustvoll durchpflügt man die Ahnenreihen der Skulpturgeschichte – unser Gehirn liebt das wohlige Gefühl des Wiedererkennens. Und Chamberlain gibt ihm reichlich Stoff. Das geht von den spätmittelalterlichen Bildschnitzern mit ihren kunstvollen Daperien bis zu Rodins „Balzac” – Kuratorin Corinna Thierolf findet im Katalog zu teilweise frappierenden Beispielen –, von den Mönchsfiguren der burgundischen Grabmäler eines Claus Sluter bis zu den plastischen Falten der Heiligen Maria Magdalena von Konrad Witz. Die allerdings gemalt ist.

Dass Chamberlain bei seiner Arbeit Konkretes im Sinn hatte, darf man bezweifeln. Allein, der Schau tut’s keinen Abbruch. Zumal sich die zwölf Objekte wunderbar in die US-orientierten Sammlungen der Pinakothek und des Museums Brandhorst einfügen. Und korrespondieren. Mit den Arbeiten Dan Flavins etwa, Fred Sandbacks oder Donald Judds, der das Werk seines Freundes John übrigens als Erster „barock” genannt hat.

Bis 23. Oktober, Katalog 19 Euro

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