Schöne Schaulust mit Roger Willemsen

Roger Willemsen gibt in „Momentum“ den sensiblen Beobachter – mal originell und manchmal gespreizt  
von  Michael Stadler

Roger Willemsen gibt in „Momentum“ den sensiblen Beobachter – mal originell und manchmal gespreizt.

Wer hat nicht schon mal im Zug einen Menschen beim Schlafen beobachtet? Da sitzt Roger Willemsen einer Mittvierzigerin gegenüber, plauscht mit ihr, beschreibt ihr sommersprossiges Gesicht. Als sie wegnickt, kann er von unten nach oben auch andere Regionen in Betracht ziehen. Sein Auge verweilt auf den breiten Oberschenkeln. Bis Willemsen bemerkt, dass die Schlafende aufgewacht ist und er beim Gucken erwischt wurde.

Willemsen ist einer, der zu seiner Schau- und Lauschlust steht, weil das für einen Moderatoren und Autoren auch sinnig erscheint, will er doch ebenso präzise die Menschen und die Welt beschreiben – das ist angesichts des gewachsenen Oeuvres Willemsens nichts Neues. Sein aktuelles Buch „Momentum“ kommt nun ziemlich ordnungsfaul daher, als nur leicht chronologisches, assoziativ zusammengestückeltes Memoiren-Mosaik, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern vielmehr auf der Annahme beruht, dass sich einem sowieso wahllos Wichtiges wie Nebensächliches einprägt, im Episodischen also die Natur des Gedächtnisses liegt.

Bezeichnend ist bei der Anekdote mit der Schlafenden im Zug, dass der Blick zur übergreifenden, dann wechselseitigen Handlung wird, so wie Willemsen insgesamt wenig von Körpererfahrungen, sondern Beobachtungen berichtet, die er in seiner Jugend wie auf seinen Reisen durch Europa, Asien, Afrika gemacht hat. Im Nachhinein fasst er diese Momente mit viel Sprachfantasie in Worte, die je nach Verfassung, auch des Lesers, originell, poetisch oder gespreizt klingen.

Amüsant ist das schon, wenn Willemsen in einem Boot einen Orang-Utan im Schoß sitzen hat und versucht, eine Stechmücke an prekärer Primatenkörperstelle zu vertreiben: „Dabei berühre ich das Genital des Affen ganz leicht. In seinen Augen rastet etwas ein, es ist wie ein Stehenbleiben im Interesse.“ Willemsen versenkt sich immer wieder in Vermutungen, die er meist im Ton der Gewissheit kundtut. Einen Südländer im Lokal überhört er beim Gespräch mit einer Dame und ist sich sicher, einer Flirt-Routine beizuwohnen: „Mit jeder will er genau diesen Abend verbringen, der so schon existierte, bevor sie existierten, das fühlen sie.“

Trotz Niederlagen entzündet sich das Begehren immer wieder, bei Willemsen, bei den anderen, deren Küsse wie Gespräche er analytisch durchdringt. Fünf Jugendliche, noch schamhaft, beim Nacktbad in einem See – Willemsen hört ihr Jauchzen: „Die Handelnden für diesmal so glücklich wie der Betrachter.“ Der Blick bringt also vornehmlich das Glück. Das Lesen auch, wobei es unmöglich erscheint, dieses Buch der Momentaufnahmen in großen Stücken zu verschlingen.

Mit seinen kurzen Paragraphen ähnelt es einer Pralinenschachtel, aus der man sich hin und wieder was herausklauben kann. In mancher Praline findet sich feiner Likör. Andere möchte man ausspucken, weil zu viel hochprozentiger Geist drinnen steckt. Insgesamt aber: gute Schokolade.

Roger Willemsen: „Momentum“ (Fischer, 316 Seiten, 21.99 Euro). Am Donnerstag liest der Autor im Literaturhaus, 20 Uhr.
 

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