Schlagerträume im Lager
Wenn sie zu uns reist, überfällt sie ein „Gemütlichkeitsschock“, denn das Tempo, das Xifan Yang aus Shanghai gewohnt ist, gibt es hier nicht. Die in Deutschland aufgewachsene Journalistin hat ihre Familiengeschichte und vor allem die ihres Großvaters in „Als die Karpfen fliegen lernten“ aufgeschrieben und lässt Chinas jüngere Vergangenheit und Gegenwart lebendig werden.
AZ: Frau Yang, wie kamen Sie nach Deutschland?
XIFAN YANG: Meine Eltern sind in der Auswanderungswelle Ende der 80er Jahre gekommen. Das war chinesische Politik: Im Westen sollte Know-How gesammelt werden. China war damals noch ein rückständiges Armenhaus. Meine Eltern habe mich erst bei meinen Großeltern gelassen. Mit vier Jahren bin ich dann nach Deutschland nachgekommen. Ich bin dann als Kind ein paar mal eher widerwillig nach China gereist. Erst nach dem Abitur habe ich das Land als China sich extrem zu verändern begann. Es hatte schon damals mit dem China meiner Kindheit nichts mehr zu tun.
Wie beurteilen Sie den deutschen Blick auf China?
Da ist inzwischen viel Angst im Spiel, aber auch ein unglaublicher Pragmatismus, weil die wirtschaftliche Abhängigkeit so groß geworden ist. Das China-Bild im Westen ist aus gutem Grund noch stark vom Thema Menschenrechtsverletzungen geprägt. Andererseits werden die kritischen Töne aus dem Westen leiser. Früher dachte man wohl, das ist nicht so schön, was da geschieht, aber irgendjemand muss ja unsere Klamotten billig zusammennähen. Heute heißt es, irgendjemand muss ja unsere Küchengeräte und Autos kaufen. Da haben sich die Machtverhältnisse eindeutig verschoben. Und als die Menschen in Hongkong zu Zehntausenden auf die Straße gegangen sind, gab es aus dem Westen keine Unterstützung mehr.
War das eine Enttäuschung für die Intellektuellen?
Absolut, vor allem bei jungen Chinesen, die sich für westliche Ideen interessieren und schon von Demokratie und Freiheit träumen. Die fühlen sich im Stich gelassen. Lange Zeit war der Westen ein moralisches Vorbild, und der Westen selbst hat ja auch noch diesen Anspruch, ohne ihn zu erfüllen, wie wir seit Guantánamo, NSA und anderen Themen wissen.
Wie kamen sie dazu, die Geschichte Ihres Großvaters aufzuschreiben?
Mein Großvater ist jetzt 81 Jahre und an seinem Beispiel spiegelt sich sehr viel der jüngeren chinesischen Geschichte. Er hat eine Art Zweitidentität als wahnsinnig talentierter Musiker und träumt immer noch davon, ein Schlagerstar zu werden. Diese Zweitidentität hat er sich zugelegt, als er in der Mao-Zeit 20 Jahre lang Zwangsarbeit verrichten musste. Sein Alter Ego war seine Überlebensstrategie. Er hat bis heute nicht mit der Mao-Zeit abgeschlossen, ist gleichzeitig ein wahnsinnig optimistischer Mensch und auch wieder ein begeisterter Anhänger der kommunistischen Partei, was man auf den ersten Blick gar nicht verstehen kann.
Was bedeutete die Zwangsarbeit?
Er war in den 50er Jahren Journalist und hatte während des Großen Sprungs etwas geschrieben, das er besser nicht geschrieben hätte: die Wahrheit. Dafür kam er in ein Umerziehungslager, ein entlegenes Bauerndorf, wo er mit anderen „Rechtsabweichlern“ 15 Stunden am Tag das ganze Jahr über hart körperlich arbeiten musste. Lange Jahre hatte er keinerlei Kontakt zur Familie. Während der Kulturrevolution gab es auch die Erniedrigungen, er hat jeden Abend bei Veranstaltungen auf der Bühne knien müssen mit der Schandhaube auf dem Kopf. Die Massen haben ihn angebrüllt, Steine auf ihn geworfen. Als Konterrevolutionär galt man damals als Abschaum. Erst mit Maos Tod und der gesellschaftlichen Öffnung kam er wieder frei. Nach der Rehabilitierung hat man ihm dann in einer Behörde einen Arbeitsplatz gegeben.
War er verbittert?
Viele Jahre lang, aber er hat sich arrangiert. Mein Großvater sagt immer, die Partei habe ihm 20 Jahre seines Lebens geklaut, aber ihm auch die 30 schönsten Jahre seines Lebens geschenkt. Seiner Familie geht es wirtschaftlich gut, die haben eine Eigentumswohnung, ein Auto.
Sein Traum, in einer Castingshow aufzutreten, hat sich nicht erfüllt?
Ich war tatsächlich mit ihm in Peking, beim Juryvorsitzenden in einer Kunst-Propaganda-Behörde. Die Show heißt „Ich will in die Frühlingsgala“ und ist sehr populär. Mein Großvater behauptete, er hätte einen Termin zum Vorsingen, aber den gab es nicht – nur in seiner Phantasie.
Könnte Ihr Buch in China erscheinen?
Nein, das müsste ich zu stark verstümmeln. Ich glaube aber auch nicht, dass es künftig meine Arbeit als Journalistin behindern wird. Es erscheint ja in Deutschland und das ist aus chinesischer Perspektive ein sehr kleines Land. Volker Isfort
Xifan Yang: „Als die Karpfen fliegen lernten“ (Hanser Verlag)