Schillernde Wahrheiten
Grandioses Entertainment: Georg Preußes „Mary Christmas“ im Deutschen Theater
Betrüge die Welt, sie will betrogen werden“, sagt ein lateinisches Sprichwort. Georg Preuße sieht das anders: Da steht er mit nacktem Oberkörper in schwarzer Baumwollhose, hat gerade das weiße Reifrock-Sissi-Kleid zu Boden gleiten lassen, die falschen Klimper-Wimpern abgezogen wie die blonde Schneckelhaar-Perücke, blitzschnell die Starporträt-Schminke abgewischt – und da steht er plötzlich, der ältere Mann mit verklebtem Haar und Geheimratsecken, abgekämpft, befreit nach drei Stunden eingeschnürtem Glitzer-Kleider-Glamour mit schleppendem falschen Blaufuchs-Überwurf und flirrenden Marlene-Dietrich-Kleidern.
Das ist der Moment der Wahrheit, das Ende der Illusion vom ewig Weiblichen, das das Publikum anzieht. Denn Preußes „Mary“ ist eine begnadete Entertainerin, mit dem entscheidenden Gespür fürs Timing: Im ersten Satz wird die Pointe angedeutet: erste Lacher im Publikum. Im zweiten Schritt ausgesprochen. Und jetzt, im schadenfrohen Begeisterungssturm – denn entweder Männer oder Frauen bekommen ihr Fett weg – verpasst Mary der Pointe noch eine steigernde Wendung. In die Verblüffungssekunde lacht sie selbst ansteckend hinein und zieht alle mit: that’s entertainment!
Publikumsbeschimpfung mit Sex-Appeal
Überraschend ist dabei die Frechheit. Ein Drittel der Show sind – auch zotige – Publikumsbeschimpfung und Witze übers Altern (die „Apothekenrundschau“ als „Rentner-Bravo“). Ein Problem, in das sich Mary kokett einbezieht, um dann sofort unter Applaus an ihren Sexappeal zu erinnern. Und einer Kunstfigur nimmt man es nicht übel, wenn die Ehefrau im Publikum angegangen wird: „Lippen wie Hot-Dogs: liegt am Botox!“
In atemberaubender Geschwindigkeit wird auch Weihnachten als Familienfest klischeehaft dekonstruiert: Geschenke-, Verwandten- und Familienwahnsinn! Nebenbei noch schnell die Emanzipation eingefordert: „Wer sich nicht wehrt, endet am Herd!“ Und der Palästina-Konflikt als trauriger Gegenmoment zum Dauerlacher eingebaut. Und wer genau hinhört, kann hinter der Mary-Maske sogar die Tragik Preußes spüren: wie in Marys Erzählung von einsamen Weihnachten. Anfang der 70er hatte die Familie Preuße wegen seiner Travestie-Shows verstoßen.
Bei all dem Show-Stakkato auf Stilettos vergisst man fast, dass Mary auch gut singt, und am Ende – als Georg Preuße – ein Liebeslied an seinen Lebensgefährten, der nie sagt: „Ich liebe dich!“ Aber das ist ja ein Problem vieler Partnerschaften.
Adrian Prechtel
Deutsches Theater