Salzburg: Liederabende mit Georg Nigl
Wenn dem Kritiker nichts mehr einfällt, dann fallen gern mal Füllwörter wie "unfassbar" oder "atemberaubend". Im Falle der nun zu bewertenden "Kleinen Nachtmusiken", die im Stefan Zweig Zentrum auf der Edmundsburg, hoch über den Dächern Salzburgs, stattfanden, kommt man um diese Begriffe leider nicht herum.
Auf dem Papier liest sich die Sache eher unspektakulär: Bariton Georg Nigl, Schauspieler Ulrich Noethen und der Clavichord-Wunderwuzzi Alexander Gergelyfi treten dreimal um 22 Uhr auf und spielen ein Überraschungsprogramm, "von Bach bis Mozart", wie es in der Ankündigung knapp und leicht lakonisch heißt. Was in dieser Trilogie geschieht, lässt sich indes kaum fassen und raubt einem wirklich und ehrlich mehrfach den Atem.
Im extrem intimen Rahmen des Saals auf der Edmundsburg sitzt man mit den Künstlern dicht zusammen und erlebt am ersten Abend ein fein komponiertes Programm mit Werken von Purcell, Monteverdi, Scarlatti sowie des Mitbegründers der Gattung Oper, Giulio Caccini. Georg Nigl entfacht ein Gefühlsfeuerwerk, jedes Stück klingt anders, manchmal in tollem, eigenwilligem Falsett-Timbre, manchmal an der Hörbarkeitsgrenze, dann wieder impulsiv wuchtig.
Die Themen drehen sich vor allem um Liebe, Verlust, Trauer, wobei immer wieder auch Hoffnungsfunken aufflammen. Nigl hat gemeinsam mit dem wundervollen Schauspieler und Rezitator Ulrich Noethen Texte der iranischen Dichterin Forugh Farrochzad (1935 - 1967) ausgewählt. Präzise, zugleich bildmächtige, metaphernreiche Poesie ist das. Der fantastische Clavichord-Spieler Alexander Gergelyfi liefert dazu mal zerbrechliche, mal wild knisternde Musik. Ein Clavichord klingt grundsätzlich sehr leise (es ist eine Vorstufe zum Hammerklavier) und wenn Gergelyfi dann noch auf einem von ihm liebevoll "Ursula" getauften Miniklangkörper aus dem 17. Jahrhundert spielt, sitzt man mucksmäuschenstill auf der Sesselkante, um nur ja kein Tönlein zu verpassen! Der persische Dichter und Mystiker Rumi mahnt uns am Ende, diesen und überhaupt jeden Tag konzentriert zu achten, wertzuschätzen.
Nachts darauf die zweite Lieferung. Und hier geschieht etwas Einzigartiges. Das Thema lautet Krieg. Matthias Claudius ist zu hören, eine brutale Tötungsfantasie von Mathias Énard, ein lebenshungriges Gedicht der 1942 mit 18 Jahren an Entkräftung und Fleckfieber verstorbenen - man ahnt warum - Selma Meerbaum-Eisinger sowie ein unglaublich ergreifender Text von Viktor Schklowski, der einfach nur beschreibt, was Krieg mit Menschen macht, als Täter und als Opfer. Da werden Frauen vergewaltigt, die sich extra mit Kot eingeschmiert haben, um ihrer Schändung - vergeblich - zu entgehen. Körperteile Toter fügt man extra falsch zusammen, was einen General zu Lachkrämpfen animiert. Das zu hören ist wirklich unerträglich.
Wie Gergelyfi wiederum diese wie scharfe Giftpfeile in Herz und Hirn rasenden Momente und Empfindungen mit sanft hin getuschten Stücken von Händel oder Bach ergänzt, erweitert, auch konterkariert, wie Nigl Bachs "O liebe Seele, zieh die Sinnen" oder "Komm, süßer Tod" exakt auf der Schnittlinie von existentieller Obdachlosigkeit und immenser Tröstung singt, nein, durchleidet, entzieht sich einer Beschreibung in normaler (Kritiker-) Sprache.
Der dritte Abend bringt ein wenig Erleichterung und Entspannung. Nicht bei tiefer Poesie der schicksalsgepeinigten Christine Lavant oder dem halb im Sterben liegenden Thomas Bernhard (in seinem autobiografischen Text "Der Atem"), wohl aber bei Nigls irrer Interpretation der "Alten" von Mozart, wo wir ein nervtötendes, witziges, fistelstimmiges Weib mit Sehnsucht nach der scheinbaren guten alten Zeit kennen lernen. Auch pfiffige Preziosen von Franzobel oder Georg Kreisler gibt es.
Die drei Soireen gehören zum Besten, was die Salzburger Festspiele seit Jahren im Portfolio haben. Sie finden nochmals vom 10. bis 12. August statt. Ganz nebenbei bekommen wir von Georg Nigl auch noch ein hochintelligente Theorie mitgeliefert, nämlich, dass wir heute eigentlich Liederabende falsch hören, wenn sie in großen Sälen und mit starker vokaler Lautstärke gegeben werden. Einst ersetzen sie - naturgemäß - jegliche Aufnahme oder gar einen Stream. Das Live-Erlebnis auf und in kleinstem Raum war Sinn und Zweck. Nigls immer wieder in rezitativische Passagen gleitende, oft leise Interpretation der Werke liefert hierzu einen vermutlich historisch korrekten Kontext. Was, bitte, können und sollen Festspiele mehr leisten?
Die Wiederholung der Liederabende am 10., 11. und 12. August in der Edmundsburg sind bereits ausverkauft. Georg Nigl singt ab 23. Dezember den Eisenstein in der neuen "Fledermaus" der Bayerischen Staatsoper.