Robert Harris im AZ-Interview: Die Lust am unkalkulierbaren Risiko
Robert Harris hat einen spannenden Roman über das Münchner Abkommen geschrieben und stellt ihn an historischer Stätte vor.
Die Vorstellung seines Romans "Konklave" nutzte der britische Bestsellerautor Robert Harris vergangenen Herbst zu einer Münchner Recherche auf den Spuren von Hitler und Chamberlain, die im damaligen Führerbau mit Edouard Daladier und Benito Mussolini das Münchner Abkommen unterschrieben hatten. Damit wurde die Tschechoslowakei gezwungen, die sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich abzutreten. Hitler, der zuvor mit Krieg gedroht hatte, schien besänftigt, die Welt atmete kurzzeitig auf. Harris besuchte den Ort der Vertragsunterzeichnung in der heutigen Hochschule für Musik. Hier empfing er auch die AZ zum Interview.
Robert Harris’ Politthriller "München" blickt vier Tage hinter die Kulissen der damaligen Konferenz, was bei Harris wie immer die spannendste Art der Geschichtsvermittlung ist.
AZ: Herr Harris, spüren Sie hier in diesem Raum eine besondere Atmosphäre?
ROBERT HARRIS: Definitiv. Das ist auch ein Grund, warum ich historische Romane schreibe, weil ich diese Schwingungen von historischen Orten in meine Bücher übertrage. Ich habe mich im vergangenen Jahr gewundert, dass dieses Gebäude so gut intakt ist. Und wenn man hier aus dem Fenster auf den Königsplatz schaut, der 1938 mit Granitplatten gepflastert war, braucht man keine große Vorstellungskraft, um sich die damalige Zeit wieder vor Augen zu führen.
Der ehemalige Führerbau ist nun die Musikhochschule.
Ich finde den Gedanken gut, dass der Ort hier für kreative Zwecke genutzt wird. Man hätte natürlich aus dem Führerbau auch ein Museum machen können, das sicherlich viele Menschen angezogen hätte. Aber ich verstehe sehr gut, dass man das nicht wollte.
Können Sie überhaupt normal durch München laufen, ohne an Hitler zu denken?
Ich liebe München und bin hier seit Jahrzehnten regelmäßig – und ich bin nicht besessen. Für mich ist München eine schöne, freundliche, weltoffene Stadt. Wenn ich in Berlin bin, habe ich viel eher das Gefühl, auf den Spuren der Nazis zu wandeln, obwohl in München ja noch mehr originale Gebäude zu sehen sind.
Vor 25 Jahren veröffentlichten Sie "Vaterland", das Buch, das Ihr Leben veränderte. Der Roman spielt am Vorabend von Hitlers 75. Geburtstag in einem von den Nazis besiegten Europa. Kein deutscher Verlag wollte es veröffentlichen, was wirklich lächerlich war.
Es war nicht lang nach der Wiedervereinigung, und es gab einen sehr sensiblen Umgang mit der deutschen Geschichte. Das Buch passte wohl nicht. Ich habe fast 30 Absagen von deutschen Verlagen bekommen, bevor Haffmann in Zürich es herausbrachte. Dann gab es große Artikel auch im "Spiegel" gegen das Buch, etwas Besseres kann einem als Autor nicht passieren. Schließlich wurde es bei Heyne ein Bestseller. Aber wenn ich an "Er ist wieder da" denke, dann war die Diskussion um mein Buch damals lächerlich.
Sie dachten, die Deutschen würden nie zu einem vernünftigen Umgang mit ihrer Geschichte finden?
Nein, ich hatte auch einen gewissen Respekt vor dieser Übersensibilisierung, wenn es das war. Die Haltung war altmodisch, aber irgendwie auch bewunderungswürdig. Ich hatte nur aus Deutschland so negative Reaktionen auf das Buch bekommen. Dabei ist es ein seriöses Gedankenspiel, was gewesen wäre, wenn sich dieses totalitäre System bis in die 60er Jahre gehalten hätte.
Warum sind Sie nun mit dem Roman "München" noch einmal auf Hitler zurückgekommen?
Das Münchner Abkommen hat mich schon immer fasziniert. Ich habe 1988 eine BBC-Dokumentation zum 50. Jahrestag darüber gemacht. Und ich hatte schon lange die Idee, eine Romanfigur zu erfinden, die mit Chamberlain nach München fliegt. Aber erst Joachim Fests Buch "Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer" hat mir den letzten Anstoß gegeben. Darin erzählt Speer von Hitlers großer Wut noch Wochen nach dem Münchner Abkommen. Es kann also so bedeutungslos nicht gewesen sein. So habe ich mir eine zweite Romanfigur in Hitlers Delegation ausgedacht, die wiederum eine gemeinsame Vergangenheit mit der britischen hat. Und ich kann die Geschichte so aus beiden Positionen erzählen.
Sie erzählen Geschichte meist aus der Perspektive von Nebenfiguren, seien sie erfunden oder real.
Das stimmt, aber Chamberlains Perspektive wäre zu eng gewesen. Und aus Hitlers Sicht, oder mit seiner Stimme zu schreiben, wäre ein Alptraum. Ich habe das schon in "Vaterland" vermieden.
Aus heutiger Sicht wundert man sich über die chaotische Vorbereitung der Konferenz.
Es wurde alles über Nacht organisiert, die Telefone der britischen Delegation funktionierten nicht, es gab nicht einmal Tinte in dem Fass, als die Dokumente unterzeichnet werden sollten. Ich möchte nicht der Mensch gewesen sein, der dafür verantwortlich war. Und dann funktionierte nicht einmal der Aufzug in Hitlers Wohnung, als Chamberlain ihn dort aufsuchte und ein zusätzliches Dokument unterschreiben ließ.
Überall wo Chamberlain auftauchte, jubelte ihm die deutsche Bevölkerung zu.
Sie haben ihn mehr bejubelt als Hitler, der darüber sehr wütend war. Aber das deutsche Volk wollte einfach keinen Krieg, sie sahen Chamberlain als den Mann, der den Frieden bringt. Alle waren erleichtert.
Chamberlain hat keinen Ruhmesplatz in der Geschichte gefunden.
Ich glaube, man tut ihm Unrecht. Er hat ja so eine Art Friedensdemonstration im Herzen der Nazi-Macht zustande gebracht. Chamberlains Bild wird verzerrt, weil das Abkommen nichts gebracht hat und es dann ein Jahr später doch Krieg gab.
Harris: "Das erinnert mich an den Geist der 1930er Jahre"
Warum war die britische Armee 1938 so schlecht vorbereitet? Man hätte seit 1933 ahnen können, was Hitler wollte.
Aufrüstung beginnt nicht am nächsten Tag, man braucht zwei, drei Jahre Planung. Zur Zeit des Münchner Abkommens hat England schon ein Drittel des Sozialprodukts für Rüstung ausgegeben. Chamberlain war nicht so naiv, wie er oft dargestellt wird. Das Wort Appeasement hat einen schlechten Klang in der britischen Politik bekommen. Aber wer weiß – hätte Chamberlain nicht zumindest dieses eine Jahr an Zeit gewonnen, wäre der Krieg vielleicht anders ausgegangen.
Sie beobachten deutsche Politik sehr genau. Was sagen Sie zum Einzug der AfD in den Bundestag?
Auf der ganzen Welt sind die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, inzwischen fast verschwunden. Die Welt vergisst. Als ich das Buch beendet habe, gab es Nazi-Demonstrationen mit Hakenkreuzfahnen in den USA und nur laue Kritik aus dem Weißen Haus. Wir haben den Brexit und Drohungen gegen die Nato. Mir kommt es so vor, als wollten die Menschen wieder unkalkulierbare Risiken eingehen. Das erinnert mich an den Geist der 1930er Jahre. Dazu kommt auch, dass wir die Auswirkungen der Finanzkrise 2008 unterschätzt haben, das ist wie ein unterirdischer schwelbtrand. Die Löhne in England und den USA sind eher gesunken, die Reichen sind noch reicher geworden. Dazu kommen Massenmigration, Jobbedrohungen durch die Digitalisierung – das alles setzt die Demokratien unter starken Druck.
Vielleicht ist das politische Personal auch nicht immer auf der Höhe der Zeit.
Politik ist wirklich heruntergestuft worden. Die meisten brillanten Menschen wollen davon beruflich nichts mehr wissen. Noch vor einem Jahrhundert war es der "höchste Ruf", für die Nation im Parlament zu sitzen. Aber man hat jetzt nicht mehr das Gefühl, dass dort die fähigsten Menschen eines Landes sitzen.
Sie sind mit Nick Hornbys Schwester Gill verheiratet. Gibt es bei Ihnen eine innerfamiliäre Schriftstellerkonkurrenz?
Nein, wir feiern jedes Jahr friedlich Weihnachten miteinander. Außerdem ist Nick thematisch auf einem ganz anderen Feld. Wir lesen gegenseitig unsere Bücher und sprechen über unsere Arbeiten. Ich gebe aber zu, dass er meine Bücher wohl nicht lesen würde, wenn wir nicht verschwägert wären, und ich seine auch nicht. Aber "High Fidelity" fand ich ein wunderbares Buch.
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