Ritter im Gerichtssaal
Erst auf Seite 135 wird es richtig spannend. Der Verdächtige sitzt am Fenster, seine rechte Hand ist mit der Handschelle an ein Heizungsrohr gefesselt. Er soll eine Frau entführt haben, doch er verrät nicht, wo sie steckt. Da droht der Ermittler, mit Hilfe eines Küchenhandtuchs und eines Eimers Wasser die Wahrheit aus ihm herauszupressen.
Die 15 Seiten von „Tabu“, auf denen Ferdinand von Schirach in einem Wortwechsel zwischen dem Ermittler und dem Anwalt des Beschuldigten das juristische und ethische Problem der Folter erklärt, sind voller Kraft. Das Material dazu lieferte die Debatte zum Einsatz von Folter in Ausnahmesituationen im Gefolge der Entführung des elfjährigen Jakob von Metzler, die Schirach hier literarisch aufbereitet, obwohl der Fall dieses Romans ganz anders konstruiert ist.
Bis dahin erzählt Schirach eher gemächlich die Lebensgeschichte eines jungen Mannes von Adel, der in einer heruntergekommenen oberbayerischen Villa aufwächst. Der Selbstmord des Vaters mit dem Jagdgewehr lastet als Trauma auf ihm. Figuren wie die frustierte Mutter, eine Dressur-Reiterin, und ihr zwielichtiger zweiter Ehemann, „der Macher“, sind scharf umrissen. Die Zeit, in der das alles spielt, bleibt lange unklar, und es ist ein starker Moment, wenn plötzlich ein Handy erwähnt wird und der Leser wie die Hauptfigur nach einem langen Internatsaufenthalt den Schock der Gegenwart spürt.
Sprachlich und stilistisch ist alles auf der Höhe von Schirachs früheren Büchern, aber es bleibt undeutlich, wohin die Geschichte eigentlich führt. Es gibt ein paar blinde Motive, wie die düstere Welt der von Unkrainern und Russen beherrschten Prostitution. Aber das stört nicht wirklich, weil auch im Leben nicht immer alles zusammenpasst.
Trotzdem geht das Buch erst in der Mitte richtig los, wenn der Strafverteidiger Biegler auftritt: Dieser Berliner Grantler ärgert sich über Rauchverbote und die deutsche Unart, die Natur über den Menschen zu stellen, als er von seinem Arzt nach einem Burnout in einen Erholungsurlaub geschickt wird. Schirach schildert das unter Kennern der Gegend durchaus gelobte Berghotel Zirmerhof in Radein so abschreckend, als habe er sich in diesem „Zauberberg für Studienräte“ persönlich über die zwei Euro für einen Krug Leitungswasser geärgert und nach einer Reklamation Hausverbot erhalten.
Nicht zum ersten Mal verklärt Schirach den Strafprozess zum letzten ritterlichen Duell in unserer modernen Zeit der Mittelmäßigkeit. Den Richter hat wieder einmal eine Affäre die Berufung zum Bundesgerichtshof gekostet. Und in der streng muffelnden Welt der Jägerei fühlt sich der Autor wohler als in der Sphäre der Fotografie, obwohl er sich hier recht geschickt technische Daten von Kameras als Authentizitätszeugnis angelesen hat. Aber das Grund-Thema, die Suche nach der Wahrheit in Kunst und Juristerei, wirkt so gezwungen in Beziehung gesetzt wie die Idee, dass der Künstler ein privates Trauma verarbeitet.
Schirach wechselt virtuos die Perspektiven der Figuren. Und dann ist da noch dieser kaltschnäuzige, in deutschsprachigen Büchern unübliche Blick. „Für einen kurzen Moment lag die Fliege auf dem Wasser; sie glänzte grün, rot und blau in der Sonne. Dann riss sie der Fluss mit sich.“ Das könnte von Ernst Jünger sein – nur dass der nie die Neigung zum literarischen Krimi verspürt hätte.
Ferdinand von Schirach: „Tabu“ (Piper, 256 Seiten, 17.99 Euro)