Regalmeter voller Langeweile
Jahrhundertbücher schinden vor allem Eindruck – und bleiben häufig ungelesen. Nicht Unterhaltung sondern Formwille, Intellektualität und literarische Innovation zählen.
Man könnte sie auch die Bibliothek des schlechten Gewissens nennen, aber der bildenden Künstler Julius Deutschbauer hatte eine bessere Idee: „Bibliothek der ungelesenen Bücher“ taufte er sein Projekt und befragte Menschen zu Klassikern aus ihrem Regal, die sie nicht gelesen hatten. „Im Prinzip, von der Nennung her, wäre es egal, ob ich jetzt fragen würde, was ist ihr Lieblingsbuch oder ihr ungelesenes Buch“, erkannte der Künstler und traf einen Nerv.
Denn was von Kritikern weltweit als „Jahrhundertroman“ eingestuft wird, ist häufig ein freudloses Leseunterfangen. Das Leichte hat in solchen Listen keinen Platz. Nicht Unterhaltung sondern Formwille, Intellektualität und literarische Innovation zählen. Ein paar Regalmeter klassische Gedankenschwere können auch Jahrzehnte nach dem Siegeszug des Fernsehens noch Eindruck schinden, besser allerdings, man kennt auch den Inhalt zwischen den Buchdeckeln.
„Ulysses": Geschätzten 20000 Arbeitsstunden
Dass es die Autoren dabei den Lesern schwer gemacht haben, ist nur die eine Seite der Medaille, häufig litten die Schöpfer schließlich am meisten. So brachte auch der regelmäßig zum größten Roman des 20. Jahrhunderts erklärte „Ulysses" seinem Autor kein Glück. Sieben Jahre (1914 - 1921) schrieb James Joyce unter erbärmlichen Bedingungen in Triest, Zürich und Paris. Die von ihm geschätzten 20000 Arbeitsstunden brachten ihn der Erblindung ein Stück näher: grüner und grauer Star, Pupillen-Trübung, Binde- und Regenbogenhautentzündung, Netzhautablösung, Abszesse waren die Folgen. Seine Ehefrau Nora nannte das Werk ein „Schwein" und las nicht einmal zwei Dutzend der 1000 Seiten.
In zwischenzeitlichen Anfällen von Zynismus wünschte sich Joyce, er hätte die Arbeitskosten besser in ein „Pfund Kotelett" investiert. Doch er wurde aus dem Schaden nicht klug und verschliss sich an „Finnegans Wake“, ein mit Sprachspielen aus zwei Dutzend Idiomen aufgemotzter Albtraum für Übersetzer und Leser, der selbst den größten aller Büchernarren, den argentinischen Dichter Jorge Luis Borges, ziemlich kalt ließ.
Bestätigung bei Tolstois
Derlei Abschweifungen hätte sich selbst Thomas Mann verboten. Zwar schrieb auch er sich bei dem vierbändigen Projekt „Joseph und seine Brüder“ häufig fest und befürchtete – völlig zu Recht wie sich später herausstellte – den Leser doch zu sehr zu langweilen. Doch anstatt den Text zu straffen, fand er Trost bei Tolstois „Krieg und Frieden“ (1600 Seiten). Schließlich entdeckte Mann auch hier Phasen quälender Stagnation und fühlte sich bestätigt und in bester Gesellschaft.
Selbst Volkshelden haben es nicht einfacher. Zum 400. Geburtstag von Cervantes’ „Don Quijote“ stellten die Spanier im Jahre 2005 fest, dass man mit den Durchquerern beider Bände (1500 Seiten) wahrscheinlich kaum das Madrider Bernabeu-Stadion füllen könnte. Immerhin, das Abenteuer mit den Windmühlen kannten sogar die meisten Nichtleser.
Die deutschsprachige Literatur aber kennt noch weitaus höhere Hürden: So eignet sich Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ durchaus als Urlaubslektüre für Masochisten, auch Oswald Wieners Roman „die verbesserung von mitteleuropa gibt etwa dem mallorquinischen Strandleben einen ungeahnten Drive. Und wer sich nicht mit Proust auf die Suche nach der verlorenen (Frei)Zeit machen möchte, der kann die Ausdehnung der Urlaubstage auch mit „Zettel’s Traum“ von Arno Schmidt oder Jean Pauls „Siebenkäs“ bekämpfen. Fremde Bücherregale wird man fortan mit ganz anderen Augen betrachten.
Volker Isfort