Recht scharfe Lauge

Alternative zu Bach: Die Brockes-Passion von Telemann, dirigiert von René Jacobs
von  Abendzeitung

Alternative zu Bach: Die Brockes-Passion von Telemann, dirigiert von René Jacobs

Mal Hand aufs Herz, ihr Apostel des Thomaskantors: Die Arien der Matthäus-Passion sind viel zu lang und ohne Trompetengeschmetter auch etwas dürftig instrumentiert. Nun wird zur Karwoche für Abhilfe gesorgt: Alles, was Sie bei Bach nur insgeheim zu wünschen wagten, erfüllt Ihnen Georg Philipp Telemanns Brockes-Passion.

Aus der Blockflötenstunde ist der dritte deutsche Barockgroßmeister als Langweiler verschrien. Aber die Don Quixote-Suite oder seine verrückte, von René Jacobs wiederbelebte „Orpheus“-Oper in ihrem Mix aus italienischen, deutschen und französischen Stilelementen belehrten neugierige Originalklang-Adepten schon vor geraumer Zeit eines Besseren.

Wie Händel, Mattheson und Keiser vertonte Telemann den Text „Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes. Die ältere Bach-Literatur brachte diese Passionsdichtung wegen angeblicher Schwülstigkeit in Verruf. Aber sie sollte mit den Ohren des Musikers gelesen werden. Wilde Vergleiche von Sünden mit dem „schlammigen Morast“ und die gern beschworenen „Bärentatzen“ und „Löwenklauen“ zwingen den Klang geradezu herbei.

Nicht ohne Grund hat sich Bachs Dichter die nach Golgatha eilende Tochter Zion ausgeliehen, nicht ohne das dunkle Wort von „Achsaphs Mörderhöhlen“ zu entfernen. Telemann fasst sich in den Arien kurz. Sein Orchester ist mit Hörnern und Trompeten opulent besetzt. Die Bravourarie „Wisch ab der Tränen scharfe Lauge“ deutet theologisch korrekt den Tod Jesus Christus als Sieg über die Mächte des Verderbens.

Eine Leipzigerin soll Bachs sanften Pietismus mit den Worten „Behüte Gott, ihr Kinder, ist es doch, als ob man in einer Opera-Komödie wäre“ kommentiert haben. Bei Telemann hätte sie wohl mit Tomaten geworfen: Die Brockes-Passion grellbunt und sadomasochistisch wie ein italienisches Barockgemälde. René Jacobs ist mit dem Rias Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin eine trotz gesanglicher Detail-Mängel aufregende Aufnahme gelungen.

Robert Braunmüller

Georg P. Telemann: „Brockes-Passion“ (harmonia mundi)

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