Rasend vor Schmerz um den Geliebten
Das Bayerische Staatsballett feiert den 40. Jahrestag der Premiere von John Crankos „Romeo und Julia“ mit einer Gala und Sunnyi Melles’ Tanz-Debüt als Lady Capulet
[INI_3]Von düsteren Ahnungen und durch Kampflärm angelockt, erscheint sie auf der Brücke. Die Gräfin Capulet entdeckt ihren toten Geliebten, zerreißt ihr Kleid und öffnet die Haare. Ein Degen, mit dem sie erst Romeo und sich selbst töten will, wird ihr mit Mühe entrissen. Dann legen Mönche die Leiche Tybalts auf eine Bahre und schleppen sie mit der schmerzgekrümmt aufgerichteten Gräfin davon.
Zu Sergej Prokofjews pathetisch schneidender Trauermusik auf Tybalts Tod choreographierte John Cranko vor 40 Jahren diese grandiose Klage. Zum Jubiläum übernahm Sunnyi Melles die Charakterrolle. Sie riskierte eine tragische Szene, wie sie heutiges Sprechtheater kaum wagt. So überwintern in Crankos „Romeo und Julia“ romantische Gefühle, die zeitgenössische Regisseure auf der Bühne verwitzeln und klein reden.
Ewig jung
Crankos Handlungsballett packt immer noch durch ihre Erzählung in der Sprache des Körpers. Der Gegensatz zwischen dem intimen Leid und fröhlichen Genreszenen steigert wie bei William Shakespeare die Tragik. Und deshalb ist es gut, dass Premieren-Benvolio Stefan Erler den Klassiker pflegt.
Die Ur-Julia Konstanze Vernon saß bei Nikolaus Bachler in der Loge, von Parkett aus sahen Lambert Hamel und Dieter Dorn, wie die Melles eine weitere alte Tugend kultivierte: Sie drängte sich bei Ensembles nie in den Vordergrund. Bei der Übergabe des Ballkleids und als strenge Mutter Julias wirkte die Schauspielerin wie ein altes Mitglied des Staatsballetts, das für diese Gala viele Veteranen aufbot: Jürgen Wienert verkörperte seinen 142. Capulet, die 1968 im Corps de ballet mitwirkende Irene Steinbeißer tanzte die Amme. Und der 80-jährige Premieren-Tybalt Heino Hallhuber stiftete so achtunggebietend wie vergeblich als Herzog von Verona Frieden.
Ewig jung wie Jürgen Roses prächtige Ausstattung sind die Pas des deux des Liebespaars mit ekstatischen Hebungen und Momenten der Ruhe. Lucia Lacarra (Julia) ergriff mit Brillanz ebenso wie durch ihre Schauspielkunst in der Trank-Szene. Ihr Partner, Rollen-Debütant Marlon Dino, bewegte als von Vergeblichkeit überschatteter Romeo, der mit wachsender Erfahrung an Charakter zu gewinnen verspricht. Und so stand dieser Abend der Rückschau im Zeichen der Zukunft. Wie es sich für Tradition im besten Sinn gehört.
Robert Braunmüller