Protest gegen die Eltern-Generation

Ein Roman, 60 Millionen Auflage und ein konsequentes Nein zur Welt: Autor Jerome D. Salinger war der Urahn einer Literatur, die sich für jede Generation ein neues Sprachrohr sucht
von  Abendzeitung

Ein Roman, 60 Millionen Auflage und ein konsequentes Nein zur Welt: Autor Jerome D. Salinger war der Urahn einer Literatur, die sich für jede Generation ein neues Sprachrohr sucht

Sein Lebenstraum war der eines 16-Jährigen: US-Autor Jerome David Salinger ließ seinen jugendlichen Helden Holden Caulfield von einer einsamen Hütte träumen, in dem er weit entfernt vom dummen Geschwätz der Menschheit sein Leben verbringen könnte.

Dass er mit Holdens kritischem Weltblick, den er im „Fänger im Roggen“ porträtierte, auf die Liebe von Millionen Lesern stieß, ist auf den ersten Blick ein Paradox. Salinger aber folgte dem im Roman notierten Wunsch: Er kaufte sich mit den Einnahmen ein Haus in den Wäldern von Cornish des US-Bundesstaats New Hampshire. Er verteidigte sich und sein Buch fünf Jahrzehnte lang gegen das Geschwätz der Menschheit, bis zum Tod vergangenen Dienstag im Alter von 91 Jahren.

Er sagte nein

Millionenofferten für die Filmrechte interessierten ihn ebensowenig wie die lukrativsten Angebote, einen weiteren Roman oder eine Biografie zu schreiben. Dabei hätten seine Fans gerne gewusst, woher die tiefe Ablehnung gegenüber der Gesellschaft herrührte.

Erste Schreibversuche unternahm er als junger Kadett in einer Militärschule, als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in Frankreich, schrieb aber weiter. Dort traf er auch den Kriegsberichterstatter Ernest Hemingway, der ihm einer Biografie zufolge ein „verdammtes Talent“ bescheinigte. Salinger verzichtete die letzten 45 Jahre seines Lebens darauf, dieses aufblitzen zu lassen, und verteidigte sein Lebenswerk. In den 80er Jahren verklagte er einen Biografen, der aus privaten Briefen zitieren wollte, und auch im letzten Jahr gewann er den Prozess gegen den Schweden Fredrik Colting, Autor der unautorisierten „Fortsetzung“ „60 Years Later: Coming through the Rye“.

Dass Salinger im Unterschied zum anderen großen Phantom der US-Literatur, Thomas Pynchon, literarisch verstummte, mag seinen Erfolg noch beflügelt haben. Denn nur so blieb Holden Caulfields reine und naive Sicht auf die Welt unbefleckt und ewig gültig.

Jede Generation hat ihren Salinger

Salingers Thema, das Aufbegehren der Heranwachsenden gegen die Generation der Eltern, habe damals alle Schriftsteller der Welt interessiert, sagte gestern Marcel Reich-Ranicki. Er bezeichnete den 1973 in der DDR und der Bundesrepublik veröffentlichten Entwicklungsroman „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf als eine Art deutschen Nachfolger mit „bahnbrechendem“ Einfluss auf die Literatur.

Und so hat jede Generation ihren „Fänger im Roggen“, einen Helden, der die Verlogenheit der Erwachsenenwelt beobachtet und notiert. Der 16-jährige Benjamin Lebert wurde 1999 mit seinem Internatsroman „Crazy“ zum jungen Holden Caulfield, mit gewissen Abstrichen gilt dies auch für Christian Krachts Debüt „Faserland“ (1995).

Und sicherlich wäre ohne diesen Hintergrund auch undenkbar, dass das deutsche Feuilleton seit einer Woche der 17-jährigen Helene Hegemann zu Füßen liegt. Die Tochter des langjährigen Berliner Volksbühne-Ideologen Carl Hegemann ist mit ihrem gerade erschienenen Debütroman „Axolotl Roadkill“ das bisher jüngste Glied in dieser Traditionskette: „Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden“, schreibt sie, sechs Jahrzehnte nach dem Erscheinen des „Fänger im Roggen“.

Salinger bediente sich damals einiger Schimpfwörter, bei Hegemann wird der Leser mit Fäkalsprache geradezu übergossen: Mehr Weltekel, weniger Empathie, aber vielleicht ist ja auch das eine Aussage über unsere Zeit.

Volker Isfort

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