Postmodern pubertieren - Helene Hegemanns neuer Roman

Für ihr Debüt „Axolotl Roadkill“ wurde Helene Hegemann 2010 erst hoch gelobt, dann als Abschreiberin verdammt. Nun erscheint „Jage zwei Tiger“
von  Robert Braunmüller

Für ihr Debüt „Axolotl Roadkill“ wurde Helene Hegemann 2010 erst hoch gelobt, dann als Abschreiberin verdammt. Nun erscheint „Jage zwei Tiger“.

Der Chaostheorie zufolge vermag der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado in Texas auslösen. Vor drei Jahren wurde Helene Hegemanns Romandebüt „Axolotl Roadkill“ als authentische Stimme der Jugend gefeiert, bis herauskam, dass die 18-jährige Autorin an ein paar Stellen mit der Methode „Copy and Paste“ gearbeitet hatte. Danach wurden wir das Thema Plagiat nicht mehr los, auch wenn es vom literarischen auf den politischen Schauplatz wechselte und ein ein paar hoffnungsvolle Karrieren hart beendete.

Hegemann überstand die Debatte. Nun ist ihr zweiter Roman da: „Jage zwei Tiger“ beginnt furios mit einem Autounfall. Binky Schweiger ist sofort tot, ihr elfjähriger Sohn Kai überlebt. Ersthelfer eilen herbei, darunter der Gründer eines Erste-Hilfe-Crashkurses. Er stellt sich dämlich an, Kai läuft weg, hat wegen seiner Verletzungen mystische Erfahrungen im Wald und verliebt sich in ein Mädchen im Wanderzirkus, dem der halbe Arm fehlt.

Das sind fürchterliche Klischees. Aber sie werden gebrochen, weil Hegemann die Artistenwelt nicht zum Kitsch-Sehnsuchtsort verklärt. Danach beginnt der Roman einen zweiten Handlungsstrang um die 14-jährige Cecile, ein drogenabhängiges, magersüchtiges Wrack mit Gewaltfantasien, deren Eltern in einem Anwesen mit 120 Zimmern leben, das so groß ist, dass die Mutter den Weg ins Esszimmer per SMS beschreiben muss.

Beide Geschichten werden sauber gekreuzt und kommen im ironischen Happy-End zusammen. Doch die Handlung des Romans ist letztlich zweitrangig. Interessanter ist Hegemanns Lust an der grotesken Übertreibung, mit der sie die Hohlheit der Schönen und Reichen im Kunstbetrieb überzeichnet. Da ist die mittellose Säufermutter, die mal 30 Millionen Euro auf dem Konto hatte, beim Charity-Event trifft sich die „Crème de la crème der Scheiße“, und die Loverin des Vaters sieht aus wie eine „bourgeoise Nagelstudiobesitzerin, blond, dünn, ein bisschen mit Kunst zu tun und offenbar auf mehreren Edelgestüten aufgewachsen“.

Überhaupt sind die überwiegend in unsoliden Kunst- und PR-Zusammenhängen arbeitenden Erwachsenen mit ihren albernen Midlife-Krisen doch eine Spur lebendiger als die eher blassen pubertierenden Jugendlichen. Das wird durchaus hinterfragt: Hegemann beschreibt die heutige Jugendkultur als postmoderne Collage; „Was sie trugen, spielte mit Bezugnahmen. Adrette Seitenscheitel, Bomberjacken, Rock’n’Roll zitieren, die chauvinistischen Überbleibsel der Hippiezeit verachten“. Marlon Brando dagegen habe mit einer Lederjacke noch präzise eine Haltung formuliert, „indem er mit seiner Motorradgang mehrere Kleinstädte zertrümmerte“.

Die Schauplätze des Romans bleiben gesichtslos – wie sie reisende Jugendliche wohl wahrnehmen, wenn ihnen nur nach Party zumute ist. Venedig, zur Kunstbiennale Europas Kokshochburg, schneidet gut ab. München ähnelt mit seinem „Zoo“, der  an einer S-Bahn-Station liegt, Türkenspätverkäufen und dem Karstadt am seltsam feierfreien Gärtnerplatz verdächtig der Hauptstadt. Dem langweiligen Zürich, gelegen an einer „bananenförmigen“ Wasserfläche, gibt die Autorin mehr Profil.

Man kann sich in den mündlichen Stakkatostil des Buchs durchaus hineinziehen lassen. Ein paar Mal meldet sich die Autorin persönlich zu Wort: „Und ja, Scheiße, apropos Roman“, aber das bleibt mehr eine nette Arabeske als experimentelles Kunstwollen.

Die tragikomischen Emotional-Clowns des Buchs könnten sämtlich in den Inzenierungen von Frank Castorf auftreten, dessen Dramaturg Hegemanns der  ist. Das Buch erinnert auch ein wenig an eine Fahrt im Regionalexpress, bei der alte Damen auf den Plätzen nebenan ununterbrochen von fürchterlichen Schicksalsschlägen und Krankenhausaufenthalten der Verwandtschaft berichten.
Bei Plagiaten lässt sich die Autorin nicht mehr erwischen. Es gibt zwei Seiten Quellennachweise im Anhang und wenn sich Karl Theodor zu Guttenberg und Annette Schavan die hyperexakte Anmerkung zu S. 115 zum Vorbild genommen hätten, wären sie heute noch Minister.

Helene Hegemann: „Jage zwei Tiger“ (Hanser Berlin, 318 S., 19.90 Euro). Auch als Hörbuch, gelesen von Birgit Minichmayr

 

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