Plantschen in der Unschuld
Das Schwert des Damokles hängt schief über dem leeren, schwarzen Raum. Eine Tiefkühltruhe, ein Sarg? Aus dem Container tropft es beharrlich. Darunter, auf der Bühne des Cuvilliéstheaters, stehen wie Holzschnittfiguren Menschen, die sich an ein Kind erinnern, das sie vergewaltigt und vielleicht getötet haben. 2001 machte der Missbrauchs- und Mordfall an einem Fünfjährigen in Saarbrücken Schlagzeilen - alle Verdächtigen wurden freigesprochen, weil die Leiche nie gefunden wurde.
Franz Xaver Kroetz schrieb danach den Text „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind”. Vor zehn Jahren wollte ihn nach Kroetz' Aussage kein Theater haben. Jetzt hat Anne Lenk eine respektable Uraufführung inszeniert - anhaltender Premierenbeifall.
Die große Verdrängung, das erfolgreiche Zurecht-Lügen des eigenen Verhaltens ist Kroetz’ Thema. Alle fünf Männer, die in einer Assi-Kneipe den Jungen missbraucht haben, erklären in großen Soli an der Rampe und als Chor, dass sie als „liebe Onkels” doch einem so „lieben Kind” und „süßen kleinen Fratz” niemals ein „Aua” getan hätten. Kurt (Manfred Zapatka) wollte nur mit Zäpfchen gegen Verstopfung helfen. Sein erster Satz ist programmatisch: „Mir liegt das Böse nicht. Mir liegt mehr das Gute.” Doch mit wachsender Erklärungsnot und Aggression schieben alle die Schuld immer mehr auf das Opfer.
Jeder hat es ja nur lieb gehabt. Ringelpulliträger Roland (Franz Pätzold) hat ihm ein Playmobil-Piratenschiff gekauft, der Möchtegern-Cowboy Bernd (Lukas Turtur) verspricht ihm ein Pferd. Der hündische Luftballon-Träger Otto (Gerhard Peilstein) hilft dem mit Phimose behafteten Jungen gerne beim Pipi-Machen, Dieter (Shenja Lacher) spielt mit ihm Mikado - darauf bezieht sich der Titel „Du hast gewackelt". Und alle wollen für ihr gutes Geld – das das zur Prostitution abgerichtete Kind auch einfordert – dessen ausschließliche Liebe. Nur irgendwann hat das Kind geschrien – das ist eben so schlimm wie ein wackelndes Mikado-Stäbchen. Es ist ein reines Männerstück. Die Frauen mit ihren Text-Floskeln sind auch in Anne Lenks formal strenger Inszenierung nur Zombies. Die Kneipen-Kuppel-Wirtin (Ulrike Willenbacher) schubst die bis zur Debilität zerstörte Prostituierte Elfi (Katharina Schmidt oszilliert zwischen Mutter und Kind) immer wieder in den Männerring: „Wer will noch mal, wer hat noch nicht.”
Alle müssen auf der zunehmend gefluteten Bühne durch Wasser stapfen, fallen, plantschen, rutschen. Das gibt bemühte szenische Effekte und schöne Lichtreflexe auf der Bühne. Oder wollen sich hier alle von ihrer Schuld reinwaschen? Diese Erklärung bleibt die Inszenierung schuldig.
Cuvilliéstheater, 20., 24., März, 13., 28. 4., 20 Uhr, Tel. 2185 1940