Philipp Oehmke: Eine schrecklich unterhaltsame Familie

Der "Spiegel"-Reporter Philipp Oehmke hat mit "Schönwald" einen furiosen Familienroman geschrieben
Volker Isfort
Volker Isfort
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Philipp Oehmke.
Foto: Karina Rozwadowska Philipp Oehmke.

Im Alter von 80 Jahren besucht Hans-Harald Schönwald zum ersten Mal in seinem Leben eine Therapeutin. Nein, Probleme hat er eigentlich keine, nur ein "diffuses Verlangen nach einer Lebensbilanzierung". Denn eigentlich, da ist er sich sicher, hat der ehemalige Staatsanwalt, Ehemann und Vater von drei Kindern doch alles richtig gemacht. Und seine Familie ist doch ein glückliche.


Nun, so ist es natürlich nicht, denn glückliche Familien liefern bekanntlich keine dramatischen Geschichten. Die Schönwalds aber bieten über 500 Seiten packenden Lesestoff im Romandebüt von "Spiegel"-Reporter Philipp Oehmke. Der langjährige Amerika-Korrespondent ist erklärter Anhänger dortiger Familienromane, ein Quell der Leselust, der seiner Lektüreerfahrung nach in Deutschland seit Thomas Mann relativ ausgetrocknet ist. Also schrieb er sich einen Roman, den er selbst gern gelesen hätte, das große Vorbild Jonathan Franzen stets vor Augen.

Viele Romane von beruflich auf begrenzten Raum geeichten Journalisten röcheln erzählerisch rachitisch mit flachem Atem, wenigen Reißbrettfiguren und noch weniger Ideen ihrem baldigen Ende entgegen. Oehmke ist aus ganz anderem Holz. Er ist ein kraftvoller, übersprudelnder Erzähler, er liebt die zugespitzte Situationskomik, hat ein Talent für pointierte Dialoge und durchleuchtet dennoch seine Protagonisten psychologisch sehr genau, kurzum: Er kann sehr unterhaltend schreiben, was bei deutschen Literaturjurys allerdings schon lange keinerlei Rolle mehr spielt. Folgerichtig hat es "Schönwald" auch nicht auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft.

Der Romanauftakt persifliert einen realen Fall: Tochter Karolin will die queere Buchhandlung "They/Them" in Berlin eröffnen und hat zu diesem Anlass die gesamte Familie Schönwald eingeladen. Doch es gibt Proteste von linker Seite, eine Aktivistengruppe vermutet "Blutgeld", das die Buchhandlung erst ermöglichte, die Schönwalds seien "Deutsche mit Nazihintergrund".

Doch die Schönwalds sind vor allem eine Familie, bei der auch aus falsch verstandener Harmoniesucht so viel zwischen Geschwistern und Eltern, aber auch unter den Eheleuten über Jahrzehnte unausgesprochen blieb, dass niemand mehr weiß, ob Schweigen vielleicht besser ist als alte Wahrheit auf den Tisch zu bringen. Karolin etwa war mal verheiratet mit einem Mann, aber ist die neue Frau an ihrer Seite jetzt die Lebensgefährtin? Niemand in der Familie weiß es so genau.

Selbst Sohn Chris, der eine Professur an der New Yorker Columbia University innehatte, traut sich nicht, seinen Eltern vom unrühmlichen Ende seiner Uni-Karriere und seinem abrupten Wechsel ins Trump-Lager zu erzählen. Schließlich hatte er zumindest zeitweise den Lebenstraum seiner Mutter Ruth erfüllt, einer Thomas-Mann-Expertin, die ihre Uni-Karriere Kindern und Haushalt opferte. Was sie den Rest ihres Lebens nicht überwunden hat.

Und vom großen, Jahrzehnte zurückliegenden Ausbruchsversuch mit verheerenden Folgen für ihre Tochter, weiß noch nicht einmal ihr Mann.

Benni, der (ungeplante) Jüngste und Sargnagel aller mütterlichen Selbstverwirklichungsambitionen lebt mit einer neurotischen Tochter eines amerikanischen Hightech-Milliardärs in einem kleinen Haus in der Uckermark. "Doch statt Johnny Cash bekam er nur Böhse Onkelz", schreibt Oehmke.

Der 49-jährige Autor nimmt sich viel Zeit, die Geschichte jedes Einzelnen der fünf Familienmitglieder aufzurollen, beginnend bei Ruth und Hans-Harald, die sich Ende der 60er Jahre in der beschaulichen Hauptstadt Bonn beim "Ball des Heeres" kennenlernen. Und so ist dieser Roman auch eine Geschichte der Bundesrepublik, mit allen gesellschaftlichen Diskursen bis hin zu den jüngsten Kolonialismus-Debatten.

Schon zur Mitte des Romans zielt die Handlung auf einen familiären Showdown, "wie in einem schlechten skandinavischen Arthouse-Film", denkt sich Chris. Aber der Autor nimmt noch mal erzählerische Umwege in die Vergangenheit. Das Fest allerdings ist für die Schönwalds nur verschoben.

Philipp Oehmke: "Schönwald" (Piper, 544 Seiten, 26 Euro)

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.