Per Olov Enquist: Tanz und Taumel

Per Olov Enquists hat an seiner großartig uneitlen Autobiografie „Ein anderes Leben“ ein Jahr lang "lustvoll" geschrieben. Am 13. Mai stellt er sie im Literaturhaus vor.
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Per Olov Enquists hat an seiner großartig uneitlen Autobiografie „Ein anderes Leben“ ein Jahr lang "lustvoll" geschrieben. Am 13. Mai stellt er sie im Literaturhaus vor.

Den früh verschiedenen Vater hat das Kind nie kennen gelernt, der ältere Bruder starb bei der Geburt, die Kindheit ist geprägt von Einsamkeit und Schuldgefühlen. Auch, weil das liebe Kind aus dem schwedischen Provinznest Hjoggböle Sünden erfinden muss, um am Samstag etwas zum Beichten zu haben.

Per Olov Enquists Schilderungen seiner Kindheit lesen sich wie ein Gegenentwurf zur lindgrenschen Bullerbü-Romantik. Es ist die Außenseitergeschichte eines fantasiebegabten Kindes, das sich den toten Vater zum geistigen Gefährten macht und unter der wortkargen und strenggläubigen Mutter leidet.

Fußball, Kartenspiel, Theater, Tanzen oder jegliche Form der Sinnlichkeit sind ihm in den 40er Jahren verboten, der Junge soll Priester werden und vor allem „nicht in den Alkohol gehen“. Letzteres wird er später exzessiv tun, zwei dunkle Jahrzehnte lang, aber da ist er schon längst ein erfolgreicher Starautor und geschiedener Vater von zwei Kindern.

„Ein anderes Leben“ nennt Enquist seine Autobiografie, an der er ein Jahr lang „lustvoll“ geschrieben hat. Man merkt es dem Buch an. Der 74-jährige Autor, dem der ganz große Durchbruch in Deutschland mit dem Historienroman „Der Besuch des Leibarztes“ (2001) gelang, erzählt mit feiner Ironie über alle Abgründe hinweg. Dass er als Erzählperspektive die dritte Person wählt, hilft ihm, diesen schlaksig wie Don Quijote aufragenden Enquist leicht distanziert bei seinem Tanz und Taumel durchs Leben zu beobachten.

Ein Suchender, ein Süchtiger. Von den „gepanzerten Brüsten in Ahlen & Holms Katalog“, die den manisch onanierenden Jugendlichen auf dem Plumpsklo in Hjoggböle in erregte Sündenangst versetzen, bis zu der Armada von Weinflaschen, die Jahre in Paris in einen monotonen Nebel verwandeln, spannt Enquist den Bogen einer inneren Unruhe. Inzwischen hat er sie unter Kontrolle, seit zwei Jahrzehnten trinkt Enquist keinen Tropfen mehr.

Als die Münchner Olympiade explodierte

„Die Ausgelieferten“, ein Dokuroman über baltische SS-Angehörige, die Schweden nach Kriegsende an die Sowjetunion auslieferten, heben den literarischen Novizen in die erste Liga der schwedischen Autoren. Er ist blutjung, wird rumgereicht und sitzt 1964 mit Enzensberger, Grass und Johnson bei einer Tagung der Gruppe 47 in Sigtuna: „Beklommen hatte er dort diese lebenden Legenden betrachtet. Die sich in ihrer fließenden, unerhört distinkten deutschen Sprache austauschten, die Verben am hoffnungslos weit entfernten Ende äußerst komplexer Sätze platziert.“

Deutschland wird eines seiner Lieblingsländer: Ein Jahr verbringt Enquist im brodelnden Berlin, bewundert die Meinhoff und schreibt über die RAF. 1972 erfüllt sich für den Sportfanatiker der größte Traum: Er reist für eine schwedische Zeitung zu den Olympischen Spielen nach München und ist fasziniert von den „Glockenblumen“ im Pressezentrum, den „klinisch unnahbaren, beinahe Göttinnen gleich“ wirkenden Hostessen, die nach zwei Wochen „Mediengefängnis“ wieder ihre Rollen in Freiheit einnehmen sollten: „Was diese Rollen auch sein mochten. Studienrätin in Enköping. Oder schwedische Königin.“ Vor allem aber ist Enquist dabei, als die Spiele explodieren. Der Autor beherrscht jede Tonlage.

Zu den humoristischen Höhepunkten des Buches gehört die Schilderung vom Scheitern des Broadwayprojekts „Die Nacht der Tribaden“, das bei der Kritik durchfiel. Die Themen Kunst und Business, Hysterie und Hochmut spielt Enquist in diesem Kapitel am Beispiel der Theaterwelt durch. „Ein anderes Leben“ ist die uneitelste Künstlerselbstbespiegelung, die man sich denken kann. Dass sich Enquist an einer Stelle das „absolutes Gehör der Prosa“ attestiert, ist keine Übertreibung, Man kann dem Befund nach der tief bewegenden Lektüre dieses Romans seines Lebens nur zustimmen.

Volker Isfort

Per Olov Enquist stellt „Ein anderes Leben“ (Hanser, 544 S., 24.90 Euro) am 13. Mai um 20 Uhr im Literaturhaus vor

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