Orte des absoluten Grauens

In ihnen spiegeln sich nicht nur das grenzenlose Leid und die totale Hoffnungslosigkeit der Männer, Frauen und Kinder, man spürt in diesen Bildern das Entsetzen, die Resignation und Ohnmacht, das Gefühl, ihrer selbst beraubt worden zu sein, aber auch Trotz und Widerstand. Diese Fotos sind die letzten Abbilder von Häftlingen der Roten Khmer in Kambodscha, die wussten, dass sie das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen würden. Die Schreckensherrschaft des Diktators Pol Pot entmenschlichte die Gefangenen, machte sie zu stummen Objekten, die vermessen und fotografisch archiviert wurden. Allein durch das Fotografieren wurden sie automatisch zu Schuldigen. Es gab kein Gericht und keine Urteile. Für die Gefängniswächter waren sie bereits tot.
1975 begann Pol Pot seine Idee von einer klassenlosen Agrar-Gesellschaft mit aller Gewalt und Brutalität durchzusetzen, nachdem fünf Jahre zuvor ein von den USA unterstützter Militärputsch das Land in politische Wirren gestürzt hatte und die Regierung von Prinz Sihanouk abgesetzt worden war. Die Folgen dieser Diktatur waren verheerend und die Bevölkerung von Kambodscha ist vielfach bis heute noch immer traumatisiert davon. In nur vier Jahren, zwischen 1975 und 1979, starben fast zwei Millionen Menschen unter diesem Schreckensregime – ein Viertel der Bevölkerung. Es war einer der größten Genozide des 20. Jahrhunderts. Wer Bücher besaß, lesen konnte, eine Fremdsprache beherrschte oder eine Brille trug, galt als Intellektueller und wurde verfolgt und getötet.
Die Roten Khmer richteten fast 200 Gefängnisse im ganzen Land ein. Das wichtigste war S-21, eine ehemalige Schule. Alle Häftlinge wurden des Verrats an der Revolution bezichtigt, durch grauenvolle Foltern zu Geständnissen gezwungen und hingerichtet. Um Munition zu sparen, wurden viele mit Knüppeln, Äxten und Schaufeln erschlagen und dann in Massengräber geworfen. Wer die Folter überlebte, wurde samt seiner mit ihm verhafteten Familie hingerichtet; so konnte es keinerlei Zeugen geben. Nach 1976 kam kein Gefangener mehr frei. Von den geschätzten 14.000 Häftlingen in S-21 haben nur sieben überlebt.
Die Münchner Fotografin Ann-Christine Woehrl ist von 2013 an mehrmals nach Kambodscha gereist. Sie besuchte das ehemalige Gefängnis S-21 in Phnom Penh, zahlreiche der sogenannten Killing Fields (von denen man mithilfe von Satellitenaufnahmen insgesamt 388 mit mehr als 19.000 Massengräbern identifiziert hat) sowie das seit 2006 eingerichtete UN-Tribunal zur Ahndung dieser Verbrechen. Seit 1979 ist das S-21 ein Museum zur Erinnerung der dort begangenen Gräueltaten. Ende 2009 wurde sein Archiv mit 4.186 (erpressten) schriftlichen Geständnissen, 6.226 Biografien und 6.147 Fotografien von der UNESCO als Weltdokumentenerbe anerkannt.
Woehrls fotografische Dokumentationen dieser Stätten sind beklemmende Zeugnisse unfassbarer Ereignisse. Angesichts dieser sepiabraun getönten Bilder glaubt man das menschenverachtende Geschehen von damals förmlich zu spüren. Die intimen Reflexionen der Fotografin über den Völkermord in Kambodscha ziehen jeden Betrachter sofort in ihren Bann. Es ist die sehr persönliche Auseinandersetzung mit der dunklen Seite des menschlichen Daseins. Das immer noch spürbare Grauen dieser Orte hat sie nicht mehr losgelassen und sie gedrängt, den Spuren dieser gewaltsam ausgelöschten Menschenleben nachzugehen.
Ihre Fotos sind immer beides zugleich, sowohl dokumentarische als auch künstlerisch gestaltete Aufnahmen. Woehrl hat die Porträts der ermordeten Menschen nicht einfach abfotografiert, sondern sie mit Lichtreflexen, Unschärfen und Schatten verändert – so wie sich auch Erinnerungen im Laufe der Jahre verändern. Man spürt ihre Empathie mit den Opfern. Ihre Bilder werfen aber auch Fragen nach dem heutigen Umgang mit den Schrecken der Vergangenheit auf.
Überschattet wurde die Eröffnung der Ausstellung am 16. Februar von der Mitteilung, dass Christine Kron, die Direktorin des Museums, wenige Tage vorher im Alter von nur 54 Jahren gestorben ist. Mit ihr verliert das Haus eine Leiterin, die mit mutigen und hochaktuellen Ausstellungen immer wieder bereit war, den Besuchern nicht nur die historischen und schönen Seiten der Ethnologie vor Augen zu führen, sondern auch, zu welch furchtbaren und schrecklichen Taten der Mensch im Lauf seiner Geschichte fähig war und noch immer ist. Damit hat sie das Museum Fünf Kontiente aus der musealen Verstaubtheit befreit und fest in der Gegenwart verankert – eines ihrer Verdienste, das bleiben wird und an dem sich auch ihr Nachfolger wird messen lassen müssen.
Bis 17. September im Museum Fünf Kontinente: "Der Schatten über Kambodscha", Fotografien von Ann-Christine Woehrl