„Nowhere Boy“: Der lange Weg zu den Beatles

Seine laszive Mutter Julia weckt in dem jungen Liverpooler die Lust – zur Musik und zum Sex. „Nowhere Boy“ zeigt unbekannte Seiten des Gitarristen und Komponisten
von  Abendzeitung

Seine laszive Mutter Julia weckt in dem jungen Liverpooler die Lust – zur Musik und zum Sex. „Nowhere Boy“ zeigt unbekannte Seiten des Gitarristen und Komponisten

Du endest im Nirgendwo“, prophezeit der empörte Lehrer an der Querry Bank High School seinem erstaunten Zögling. „Ist das Nirgendwo ein Ort für Genies?“, fragt John Lennon mit gespielter Unschuld. Nowhere Boy, Nowhere Man, Nowhere Land: Wie in dieser Szene tauchen noch oft im Film Anklänge an Lennon-Klassiker auf. „You're a looser!“ giftet ihn beispielsweise ein Mädchen an, als John betrunken am Cavern Club vorbei torkelt. Zehn Jahre später schreit John „I'm a looser!“ und niemand scheint ihn zu verstehen, obwohl der Song ein Welthit ist.

„Nowhere Boy“ (ab Donnerstag in den deutschen Kinos) erzählt die Geschichte von John Lennons Kindheit und Teenagerzeit im Nachkriegs-Liverpool. Der 1990 geborene Hauptdarsteller Aaron Johnson gleicht äußerlich zwar nicht besonders dem rebellischen Ziehsohn der strengen Tante Mimi (Kristin Scott Thomas), bei der John aufwächst, aber stimmlich und gestisch trifft Johnson auf fabelhafte Weise John Lennons Wesen.

Der spätere Gründer der Beatles ist in jenen Jahren hin und her gerissen zwischen zwei klugen und starken Frauen, nämlich zwischen den Schwestern Mimi und Julia, Johns lebenslustiger Mutter (Anne-Marie Duff), die John zu spät richtig kennen lernt und bald wieder für immer verliert.

Die Schicksalsschläge in Johns Leben werden nicht stärker betont als Johns Fähigkeit, daraus kreative Kraft zu schöpfen. Die Pop-Ikone der 1960er Jahre wird einerseits als Opfer der Erwachsenen in den 50er Jahren, andererseits als aggressiv handelnder Jugendlicher gezeigt, der sein schräges und respektloses Tagebuch „The Daily Howl“ („Der tägliche Aufschrei“) führt, sich einen Dreck um die Schule schert und mit wilder Entschlossenheit in die Welt der Musik flüchtet.

„Give me some truth!“ Schritt für Schritt hat John quälend langsam die Ereignisse hinter dem Familiendrama erfahren. Seither will John die Wahrheit, immer nur die Wahrheit. Er will sie erfahren und er will sie weiter geben. Auch dafür steht dieser Film, für die Entstehung von Johns unbändiger Gerechtigkeitsliebe.

Rückblenden schildern das traumatische Erlebnis, als der fünfjährige John vor die Wahl gestellt wird, bei Vater Alf, einem Handelsmatrosen zu leben, der mit John nach Neuseeland auswandern will, oder bei seiner Mutter, die während der langen Abwesenheiten ihres Mannes eine uneheliche Tochter mit einem Soldaten gezeugt hat.

„Deine Spucke ist meine Spucke“, lächelt Mutter Julia lasziv, nimmt ihrem 15-jährigen Sohn John die Mundharmonika aus der Hand und bläst hinein.

Sie bringt ihm das Banjo-Spielen bei, das Tanzen und die Liebe zur Musik, die mit Elvis und vielen anderen aus den USA nach England schwappt. „Rock'n'Roll ist Sex“, haucht die attraktive Julia ihrem pubertierenden Sohn ins Ohr. Sie zeigt ihm, was Lebenslust gepaart mit Depressionen bedeutet und John wird das sein nur 40 Jahre lang währendes Leben nie vergessen.

Johns Psychiater Anfang der 70er Jahre, der Begründer der Schreitherapie Arthur Janov fühlt sich durch Johns Verhalten an andere Patienten mit verführerischen Müttern erinnert. Sie heiraten später äußerlich wenig attraktive oder fremd aussehende Frauen (Yoko Ono), um – meist unbewusst – der Inzest-Gefahr zu entgehen. Die war bei John gegeben.

Denn im Gegensatz zu Tante Mimi war Johns Mutter bis zu ihrem Unfall-Tod im Juli 1958 eine äußerst attraktive Frau, die sehr gern flirtete. Als Heranwachsender nimmt John erstmals bewusst die erotische Ausstrahlung seiner Mutter wahr.

Als er eines Nachmittags ein Nickerchen macht, legt sie sich auf ihn: „Ich werde nie vergessen, was sie damals anhatte. Einen kurzärmligen schwarzen Angorapullover mit einem runden Kragenausschnitt und ihren engen dunkelgrün-gelb gesprenkelten Rock. Während wir so dalagen, berührte ich zufällig ihre Brust, und ich fragte mich, ob ich noch etwas anderes tun sollte. Es war ein eigenartiger Moment. Ich denke immer, ich hätte es tun sollen. Vermutlich hätte sie es mir erlaubt.“

Der Inzestgefahr bietet die Regisseurin Samantha Taylor-Wood in ihrem ersten abendfüllenden Kinofilm viel Raum. Die britische Künstlerin, die zu diesem glänzenden Debüt vom 2008 verstorbenen Regisseur Anthony Minghella („Der englische Patient“, „Der talentierte Mr. Ripley“) ermutigt wurde, greift hier beherzt in das Leben John Lennons ein und nimmt es in Kauf, dass Johns Leben ihr eigenes auf den Kopf stellt.

John hätte es vermutlich gefallen, dass sich die heute 43-jährige Regisseurin in den um 23 Jahre jüngeren Hauptdarsteller Aaron Johnson verliebt. Die beiden sind heute ein Paar und im Juli 2010 ist ihre gemeinsame Tochter geboren worden.

Der Film betont die musikalischen Aspekte der Prä-Beatles-Zeit und zeigt beispielsweise gekonnt witzig das erste Treffen Johns mit Paul McCartney, dessen Kindheit auch nicht glücklich verlief. Pauls Mutter war an Brustkrebs gestorben, als der spätere Beatles-Bassist 14 Jahre alt war. John und Paul waren also schon vor dem Beginn der Beatles beide Halbwaisen.

Nicht nur das musikalische Talent, auch das familiäre Schicksal verband die beiden, die zum erfolgreichsten Komponistenduo des 20. Jahrhunderts werden sollten. Davor aber – und das zeigt „Nowhere Boy“ in noch nie dagewesener Weise – stellt Mutter Julia die Weichen hin zum Phänomen der Beatlemania.

Sie ist es, die John erste Lieder vorspielt, von Liverpooler Folklore („Maggie May“) bis zu Elvis' „Shake, Rattle & Roll“ oder Eddie Cochrans „Twenty Flight Rock“.

Der Soundtrack („Nowhere Boy“, Sony Music) bietet einige Überraschungen, unter anderem die erste Lennon-Komposition „Hello Little Girl“, meisterhaft von Aaron Johnson interpretiert.

Am Ende der Pressevorführung für Journalisten vergangene Woche wischte sich ein hartgesottener und langjähriger Filmkritiker, der zwei Reihen weiter vorne saß, Tränen aus dem Gesicht. „Nowhere Boy“ klingt nämlich mit einer bislang unbekannten Version von John Lennons Song „Mother“ aus.

John schreit immer wieder das markerschütternde „Mama don't go, Papa come home!“ Die Abwesenheit eines Leadgitarristen und die Zurückhaltung des Schlagzeugers und des Bassisten eröffnen John die Möglichkeit, seine Stimme als dominierendes Instrument einzusetzen. Die Aufnahmen waren eine Art Privatangelegenheit: Drei Musiker – John Lennon, Klaus Voormann und Ringo Starr. Ein Trio, live im Studio. Die ungefilterte Atmosphäre ist im Kinosaal und auf dem Soundtrack zu hören.

Das große Verdienst dieses Filmes ist es, John und Pauls Freundschaft und Johns Schmerzen, die zu unsterblichen Songs führten, verständlich zu machen. Nie zuvor hat ein Rock'n'Roll-Film so auf die Tränendrüse gedrückt, aber beides funktioniert in dieser Kombination – das Heulen und der selten rührselige, sondern heiße Sound meist aus den 1950er Jahren. Nicola Bardola

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