Nikitin: In Bayreuth rausgeworfen, in München engagiert
Bayreuth, Berlin, München - Gestern sah es noch so aus, als hätte erst der Beitrag des ZDF-Magazins „Aspekte“ vom Freitag die Wagner-Schwestern auf den Gedanken gebracht, sich näher mit den Tattoos des Sängers Ewgeny Nikitin zu beschäftigen, ehe sie ihn zum Rapport bestellten und von der Titelrolle im "Fliegenden Holländer" entbanden. Es passte zu schön ins Bild der leicht überforderten Damen.
Nun plaudert aber der Dirigent Christian Thielemann in der Berliner „BZ“ aus den Proben: Nikitin habe die Frage des Regisseurs Jan-Philipp Gloger verneint, ob er eine Hakenkreuz-Tätowierung trage. „Was natürlich nicht stimmt. Er hätte sagen müssen: Ja, da war mal eins, das ich mir in einem Anfall von Idiotie stechen ließ. Jetzt ist es übermalt“, sagte Thielemann.
Dass Nikitin am ganzen Körper tätowiert ist, war noch nie ein Geheimnis. Der Verfasser dieses Artikels weiß es seit dem Besuch einer „Don Giovanni“-Vorstellung des St. Petersburger Mariinsky-Theaters vor drei Jahren. Deshalb stimmt auch Thielemanns Kritik an Nikitins Management: „Wie kann man einen Sänger so ins Messer laufen lassen? Der Sänger hätte geschützt werden müssen.“ Allerdings: „Ein Hakenkreuz geht nie, nicht nur in Bayreuth.“
Und heuer noch weniger: Denn im Park vor dem Festspielhaus steht seit 22. Juli die Ausstellung „Verstummte Stimmen – Die Bayreuther Festspiele und die ,Juden’ 1876 bis 1945“. Auch die dort geschmackloserweise erst in der Nachkriegszeit von der Stadt Bayreuth aufgestellte Wagner-Büste des Nazikünstlers Arno Breker ist umgeben von grauen Info-Tafeln, die an Grabsteine erinnern.
Das Projekt informiert über den deutsch-nationalen Antisemitismus bei den Festspielen. Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ warnte vor dem angeblich „zersetzenden Einfluss“ des Judentums auf die deutsche Kultur. Seine Witwe Cosima rühmte sich, 1888 die Aufführung der „Meistersinger“ ohne Juden gestemmt zu haben. In den 1920er Jahren mied Hitler die Festspiele, weil er die Besetzung Wotans mit Friedrich Schorr für „Rassenschande“ hielt.
Ein Sänger muss in der Endprobenphase gewiss nicht durch den Festspielpark spazieren. Aber Nikitins Entschuldigung, ihm sei nicht bewusst gewesen, dass seine Tattoos in Bayreuth zum Problem werden könnten, ist naiv. Ein so lässiger Umgang mit Geschichte mag in seiner russischen Heimat zwar üblich sein – in Hitlers ehemaligem Hoftheater ist dies unerträglich. So schwer ist die Titelrolle im „Fliegenden Holländer“ nicht zu besetzen, als dass dieser Sänger am Grünen Hügel unverzichtbar wäre.
Mit den „Verstummten Stimmen“ vor dem Festspielhaus müsste man den Wagner-Schwestern Heuchelei vorwerfen, hätten sie an Nikitin festgehalten. Was nicht heißt, dass die Strafe ewig währt: In München wird der Bariton trotz der Affäre im Herbst als Telramund im „Lohengrin“ auftreten. „Ich sehe in der Causa zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers“, erklärt Intendant Nikolaus Bachler. „Dass die Torheit eines 16-jährigen Rocksängers ausgerechnet nun von der Wagner-Familie geahndet wird, finde ich verlogen. Man zeigt offenbar mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat.“ Nikitin habe den Vorfall bedauert und Reue gezeigt. „Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe“, so Bachler.
Dieser Vorwurf ist zwar beliebt, war aber auch vor „Verstummte Stimmen“ nur noch eingeschränkt zutreffend. Seit 1998 erinnert im Festspielpark eine Tafel an die Sängerinnen Ottilie Metzger und Henriette Gottlieb, die Opfer des Holocaust wurden. Katharina Wagners „Meistersinger“-Regie spielt kritisch auf Nazi-Rituale und den Missbrauch dieser Oper an, Stefan Herheims „Parsifal“ ist eine Tonbildschau zur deutschen Geschichte einschließlich der NS-Zeit. Seit zwei Jahren sichten Historiker die Festspielgeschichte. Der faulige Geruch der Vergangenheit wird Bayreuth trotzdem noch lange begleiten.