Neues aus der Anstalt

„Das Alphabethaus” ist eigentlich das Debüt des dänischen Bestsellerautors Jussi Adler-Olsen – am Montag kommt es in Deutschland mit 15-jähriger Verspätung auf den Markt
Günter Keil |
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Für Jussi Adler-Olsen war 2011 das erfolgreichste Jahr seiner Karriere: Sein Thriller „Erlösung” avancierte zum meistverkauften Roman Deutschlands. Der Däne ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Europas und kennt sich in München erstaunlich gut aus. Am Montag erscheint mit 15-jähriger Verspätung das Debüt des heute 61-jährigen Autors, „Das Alphabethaus” (dtv), erstmals auf Deutsch. Es zählt nicht zur Serie um den Ermittler Carl Morck. Die Handlung dreht sich um die Entwicklung von Psychopharmaka durch Nazi-Ärzte.


AZ: Herr Adler-Olsen, Sie beschreiben in Ihrem Roman die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1972. Waren Sie live in München dabei?
JUSSI ADLER–OLSEN: Leider nur in Gedanken. Schon damals war ich ein großer Fan der Olympischen Spiele und habe seit Rom 1960 wirklich alle Wettkämpfe im Fernsehen verfolgt. München hat mich zuerst total begeistert, und dann – nach der Geiselnahme und der missglückten Befreiung – auch politisch stark interessiert. Ich habe dutzende Bücher, hunderte Fotos und Unmengen von Artikeln über diese Spiele gesammelt. Insofern kam es mir beim Schreiben so vor, als wäre ich schon mindestens einmal hier gewesen.
Was verbinden Sie heute mit München?

Das ist eine Stadt, in der es für einen Dänen fast unmöglich ist, zu überleben.
Warum?

Jedes Mal, wenn ich bei Ihnen war, wundere ich mich, dass ich danach noch am Leben bin. Man stopft mich immer mit so leckeren Sachen voll wie Schweinsbraten oder Kuchenspezialitäten, dass ich fast platze. Aber das Schlimmste ist das Münchner Bier!

Schmeckt es Ihnen nicht?
Doch, sehr gut sogar. Aber es überfordert mich. Sie haben hier eine andere Art zu trinken, da komme ich einfach nicht mit. Dabei spreche ich nicht nur über das Oktoberfest, sondern über die Trinkgewohnheiten in einem normalen bayerischen Wirtshaus. Letztes Jahr beobachtete ich ein junges Mädchen, höchstens 18 Jahre alt, die trank einen Liter Bier und danach gleich noch einen und musste nicht auf die Toilette. Wie ist das möglich? Sie in Bayern müssen Blasen wie Elefanten haben! Ich muss schon pinkeln, wenn ich nur eine Maß sehe.

Stellen Sie auch Gemeinsamkeiten zwischen Dänen und Bayern fest?
Wir Dänen sind die Latinos von Skandinavien und die Bayern sind die deutschen Latinos. Also bunt, ein bisschen dickköpfig und laut, aber immer mit einem Leuchten in den Augen. Das gefällt mir – und München als Stadt ist wundervoll. Man spürt hier ähnlich wie in Kopenhagen, dass die Menschen gerne diskutieren, das große kulturelle Angebot nutzen und ihr Leben genießen. Mir kommen die Münchner auch nicht oberflächlich, sondern überwiegend intellektuell vor. Aber ich bin nicht ganz objektiv in meiner Beurteilung der Stadt, denn mein Verlag, meine deutsche Familie, sitzt hier.

Haben Sie nichts an München auszusetzen?
Doch, es gibt da etwas: Diese andere Seite der Stadt, diese Zurschaustellung von Reichtum und Macht. Ich beobachte die dicken Autos und die repräsentativen Gebäude von Staatsregierung und Justiz mit Skepsis und hoffe, dass nie mehr jemand wie die Nazis seine Macht missbraucht und die Bedeutung Münchens für undemokratische Ziele nutzt.
In „Das Alphabethaus” schildern Sie, wie Hitlers Ärzte in einer Freiburger Spezialklinik den Patienten Elektroschocks verabreichen und an ihnen Psychopharmaka testen.

Machtmissbrauch scheint Ihr Thema zu sein.
Ja, absolut. Das gilt für all meine Bücher, auch die Serie um Carl Morck. Aber „Das Alphabethaus" ist für mich noch persönlicher: Da mein Vater Psychiater und Klinikleiter war, bin ich im direkten Umfeld von psychiatrischen Einrichtungen aufgewachsen. Wir Kinder haben in diesen „Irrenanstalten”, wie sie in den 50er und 60er Jahren genannt wurden, gespielt. Schon damals ist mir aufgefallen, wie unmenschlich und autoritär manche Ärzte mit ihren Patienten umgingen. Ich hatte Angst vor ihren Nadeln, glänzenden Handschuhen und ihrer Brutalität. Zwei Ärzte sind mir besonders im Gedächtnis geblieben: Sie rasierten sich Glatzen und tranken demonstrativ rohe Eier – das war eine ganz widerliche Zurschaustellung von Macht und Männlichkeit.

Hatten Sie direkten Kontakt zu Patienten?
Natürlich, denn die Kinder des Klinikpersonals durften sich fast frei auf dem Gelände bewegen. Die Familien wohnten dort, das waren abgelegene Einrichtungen in wunderschöner Natur. Sie können sich nicht vorstellen, was ich dort alles gesehen habe: Patienten, die sich im Wald an Bäumen erhängt hatten und viele, die im Sommer wie Tiere in offenen Käfigen ausharren mussten, kaum bekleidet, Männer und Frauen getrennt. Ich schlich mich manchmal in die Behandlungszimmer und versteckte mich dort. So konnte ich beobachten, wie mit Elektroschocks behandelt wurde. Durch ein Dachfenster habe ich sogar regelmäßig bei Autopsien zugeschaut.

Klingt unglaublich.
Heute wäre es ein Skandal, ja. Aber damals war das ganz normal. Ich muss allerdings hinzufügen, dass mich mein Vater auf diese Situationen gut vorbereitet hatte. Er schärfte mir immer wieder ein, dass die Patienten einmal ein ganz normales Leben geführt hatten und nur durch schlimme Ereignisse so „verrückt” wurden. Er lehrte mich Empathie – und ich machte mich nie über diese Menschen lustig, sondern hatte Mitleid mit ihnen. Seit dieser Zeit fühle ich mich übrigens besonders zu schrägen, verrückten Menschen hingezogen.

Wann entstand die Idee, aus Ihren Erlebnissen ein Buch zu machen?
Ein paar Jahre nach den schlimmen Erlebnissen zogen wir um, mein Vater arbeitete an einer neuen Klinik. Mir fiel auf, dass die Patienten viel ruhiger waren und sich normaler verhielten. Sie hörten zu, man verstand sie und sie folgten den Anweisungen der Ärzte. Plötzlich waren nicht nur Tranquilizer, sondern Psychopharmaka im Einsatz! Doch woher kamen sie? Wer entwickelte sie? Es schien ein großes Geheimnis zu sein. Viel später recherchierte ich intensiv darüber. Es gab Gerüchte, dass die Nazis Versuche in KZs gemacht hätten. Aber auch mein Vater konnte das nicht bestätigen, er vermutete, dass sie eher heimlich Versuche mit psychisch Kranken gemacht hatten. Für mich war das ein perfekter Stoff: geheime Versuche, die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und eine spannende Spurensuche unter überlebenden Alt-Nazis im Münchner Olympiajahr 1972.

Jussi Adler-Olsen: „Das Alphabethaus”, (dtv, 588 Seiten, 15.90 Euro)

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