Nackte Wirklichkeit, hart poetisch
Kennen Sie das? Jemand zieht Sie mit den Augen aus, gnadenlos und doch anziehend unheimlich. Brandon ist so ein Typ, der das kann, der Frauen ins Bett bekommt, ohne entweder den Frauenversteher abzugeben oder auf Macho-Sprüche zurückgreifen zu müssen.
Er muss auch nicht cool sein, er ist kalt: ficken und weiterschicken, ist sein Lebensstil. Sein Mittdreißiger-Körper ist seine Waffe, ohne dass er ihn in seinen lässigen Yuppie-Designer-Anzügen zur Schau stellen muss.
Schon in der morgendlichen New Yorker U-Bahn braucht er seinen ersten Kick – und wie Michael Fassbender mit Blicken, gezielt „zufälligen” Berührungen Szenen nicht erotisch, sondern sexuell auflädt, jagt uns einen Schauer über den Rücken.
Und wenn er am Ende Monate später wieder die junge Frau in der U-Bahn sieht, gibt ihm der Ehering an ihrem Finger einen Stich. Nicht nur, weil das Objekt der Begierde verbürgerlicht vergeben ist, sondern weil in dem Goldring eine Gegenwelt aufblitzt, die diesem „American Psycho” verwehrt ist.
Die Kunst des Films „Shame” des englischen Regisseurs Steve McQueen ist es, jeglichen Neid-Voyeurismus bei der Beobachtung eines Mannes auf seiner großstädtischen Sex-Odyssee zu unterlaufen. Denn selten wird Sex so gnadenlos deutlich, aber verzweifelt und leer gezeigt. Dabei ist der Film irritierend moralfrei. Denn Brandon wird nicht etwa als ein hurendes Schwein diffamiert. Vielmehr tut es in der Seele weh, wie hier ein Mensch Gefühle und Bindungen nicht zulassen kann – und ganz fein werden die Wurzeln dieser Gefühlsverarmung nur als Möglichkeiten angedeutet.
Als seine chaotisch liebenswerte, tragisch lebensunfähige Schwester (Carey Mulligan) in einem Club das „New York”-Sinatra-Lied vom Vagabunden erschütternd verloren singt, überkommt Brandon plötzlich eine Träne und damit die Irritation, dass Gefühle für ihn möglich wären. Aber er muss sie wegwischen – als ängstigende Wahrheit, die er nicht wahr haben will, die ihn aber aggressiv macht – auch gegen sich. Mit seinem Film gelingt es McQueen, dieses Leben, das so fern von unserer Wirklichkeit nicht ist, und die Stadt als spiegelnde, einsame Landschaft kunstvoll natürlich, hautnah einzufangen. So ist „Shame” faszinierender poetischer Realismus, hart und fair.
Kino: Atelier, Leopold, Monopol R: Steve McQueen (GB, 101Min.)
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