Mythenland

„Deadwood” – Pete Dexters wuchtiger Romanwestern von 1986 ist jetzt auf Deutsch erschienen
Christian Jooß |
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Jedes Schicksal braucht einen Ort, an dem es sich erfüllt. Deadwood liegt in South Dakota – mit Blick auf die Black Hills, deren Silhouette das Unheimliche spiegelt, das in die Stadt drängt. Der 1943 geborene ehemalige Journalist und seit Anfang der 80er Schriftsteller, später Drehbuchautor Pete Dexter hat mit „Deadwood” einen Roman über den Wilden Westen geschrieben. 1986 ist er in Amerika erschienen, wurde jetzt auf Deutsch übersetzt. Fünf Teile konstruiert er um fünf Personen, die sich ab 1878 in der Stadt aufhielten.

In den ersten Szenen sieht man Revolverlegende Wild Bill Hickok, seinen Freund Charley Utter und die einzig erfundene Figur, den Bruder von Charleys Frau, Malcome, bei ihrer Rast vor der Ankunft an ihrem Ziel. Mit dabei ist Al Swearingen, ein Hurentreiber, der seinen Wagen voll mit Prostituierte geladen hat und später in Deadwood mit der ganzen Macht seiner schmierigen Existenz ins Geschäft einsteigen wird.

Durch diese Welt reitet Boone May mit dem Kopf von Frank Towels. Eigentlich will er ihn in Cheyenne abgeben, um die Belohnung zu kassieren, aber während der Kopf verwest, stirbt der Plan. In dieser Welt ist Sex Gewalt, Dienstleistung oder beides. Hier hat Sheriff Seth Bullock für einen Teil der Stadt ein Law-and-Order-System errichtet, das sich den Wellen des Wahnsinns, die aus dem anderen Stadtteil, den Badlands, herüberschwappen, anpassen muss.

Dexters Roman ist eine Erzählung über die Geburt Amerikas, eine Gesellschaft, vereint im Spiel um das Glück. Im ersten Teil kulminiert das im Moment von Wild Bills Tod. Hinterrücks erschossen von Jack McCall. In seiner Hand, so sagt man, Assen und Achten. Die Kunst der Überlieferungen ist ein entscheidendes Erzählmoment des Romans. Ein geschichtsloses Land (das die Tradition der Ureinwohner nur als Bedrohung wahrnimmt) gibt sich seine Mythen. So wird Dexters Modell einer Geschichte legitim. Der Moment ist vergänglich, das Sprechen darüber bleibt. „Ich überlasse Bill diesen Leuten, sie werden ihn am Leben halten”, wird Jane Cannary sagen. Da hat man schon im Saloon Bills Todesstuhl und sein letztes blutverschmiertes Blatt ausgestellt. Originale? Wen interessiert’s, wenn die Geschäftsidee stimmt. Cannary ist neben zwei weiteren weiblichen Figuren die faszinierendste Frau, der ein Romanteil gewidmet ist.

Cannary ist Calamity Jane, eine präfeministisch selbstbestimmte Figur. Eine schießende, trinkende Frau, die, auch wenn sie ihr Geld mit Prostitution verdient, immer die Macht über den Sex behält. Eine, die den Adlerschrei ausstößt, modernd aus der Landschaft wächst. Dabei von anbetender Liebe zu Bill befallen ist und ihren Drang zu pflegen in der Betreuung der Pockenkranken auslebt. Es ist die historisch belegbare Utopie einer Frau, deren Unwahrscheinlichkeit Dexter kreatürlich erscheinen lässt, weil er sie an der heiligen Grenze zum Wahnsinn wohnen lässt.

Nur ein Lebensweg führt durch und aus Deadwood hinaus. Charley Utter, Bills Freund. Zwischen käuflicher Liebe, Schießereien und mythischem Gewaltdelirium versucht Charley, Mensch zu bleiben. Sein Vertrauter wird der Stadtirre, der Flaschenfreund, vor dem Schmutz geschützt durch ein Leben in seiner eigenen Realität. Charley kann nicht unschuldig bleiben. Aber er kann am Ende seines Lebens, erblindet und sterbend in Panama, erkennen, was seine Liebe gewesen wäre.

Pete Dexter: „Deadwood” (Liebeskind, 448 S., 22 Euro)

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