Zum Raum wird hier die Zeit: Vladimir Jurowski dirigiert im Nationaltheater

Wer den Bariton von Matthias Goerne einmal gehört hat, wird ihn unter beliebig vielen anderen sofort wiedererkennen. Sein Organ ist unverwechselbar stark gefärbt, ausgestattet mit einer gewissen Üppigkeit, sicherlich keine jener neutralen Männerstimmen, wie sie heute vielerorts bevorzugt werden.
Für die "Sechs Monologe", die Frank Martin auf Texte aus dem Theaterstück "Jedermann", dem "Spiel vom Sterben des reichen Mannes" von Hugo von Hofmannsthal, in den 1940er Jahren komponierte, ist Goerne ein Glücksfall. Denn der Schweizer Komponist erging sich in diesem Werk in einer gesanglichen und orchestralen Kargheit, die trotz der knappen Spieldauer eine Herausforderung für die Aufmerksamkeit des Publikums darstellt.

Die existentielle Szenerie erfüllt Matthias Goerne mit seinem unüberhörbaren Format. Ab der ersten Note sind auf der Bühne des Nationaltheaters die Bühnenfiguren, die der gebürtige Weimarer verkörpert hat, präsent, insbesondere die menschliche Integrität von Richard Wagners Wolfram und König Marke, aber auch die Qual des Amfortas. Goernes sämige Geschmeidigkeit hüllt den Sprechgesang der "Jedermann"- Monologe, der kaum einmal melodisch wird, in eine Sinnlichkeit ein, die der Sprödigkeit dankenswert entgegenwirkt. Nicht zuletzt bringt seine gereifte Personalität die naturwüchsige Klobigkeit des Wozzeck mit, eine anrührende Naivität, die immer ein wenig erstaunt zu sein scheint über das Schicksal, das ihr widerfährt. Geäußert wird sie mit unaufdringlicher Textverständlichkeit.
Die Streicher artikulieren atmend, die Tuttischläge beeindrucken durch Präzision
Das Holzschnittartige des originalen Klavierparts hat Frank Martin in seiner späteren Instrumentierung nicht gemildert. Weit davon entfernt, diese Härten zu glätten, tut Vladimir Jurowski dennoch gut daran, das Bayerische Staatsorchester klanglich nicht noch zusätzlich zu beschneiden. Die Streicher artikulieren atmend, die Tuttischläge beeindrucken durch Präzision, nicht durch Brutalität. Dazu kommt eine flexible, prosahafte Zeitgestaltung quasi ohne hörbare Taktstriche.
Umso erstaunlicher ist dann im Vergleich, wie streng formal Jurowski die Symphonie Nr. 6 von Anton Bruckner anlegt. In knirschend langsamen Tempi staut der Generalmusikdirektor Energien auf, kostet gliedernde Pausen ausdrucksvoll aus, erliegt nie der Versuchung, Brüche zu kitten oder dem Sog der Entwicklung mit Beschleunigungen nachzugeben. Stattdessen lässt Jurowski die Register des Staatsorchesters maximal widerständig aneinander reiben und kreiert so eine dreidimensionale Landschaft: Zum Raum wird hier die Zeit.