Wolfgang Niedecken: Der kölsche Dylan
Der Mangel an Planungssicherheit setzt auch Wolfgang Niedecken zu. Termine für die geplante Tournee anlässlich seines 70. Geburtstag am 30. März lassen sich derzeit schwer festlegen. Dennoch will der Kölner Musiker, Maler, Buchautor und gelegentliche Radiomoderator nicht klagen. Das Corona-Virus zwingt viele andere Menschen deutlicher in die Knie als ihn, sagt Niedecken.
Den ersten Shutdown im Frühjahr 2020 erlebte er sogar mit regelrechten Glücksgefühlen, weil er zum ersten Mal Großvater wurde. Und das gleich zweimal hintereinander, innerhalb von neun Tagen. Robin, sein Sohn aus erster Ehe, schenkte ihm den Enkel Quinn, kurz darauf kam Noah, der Sohn seiner Tochter Isis aus zweiter und bestehender Ehe zur Welt.
Wut als Triebfeder zum Songschreiben
Die Liebe als Triebfeder für sein gesamtes künstlerisches Schaffen manifestierte sich somit für ihn einmal mehr im Privaten. Oder war es zum Teil auch Wut, die ihn als Songschreiber im Verfassen von Protestliedern wie "Zehnter Juni" antrieb? "Liebe und Respekt gingen bei mir immer Hand in Hand", erzählt er am Telefon. "Wut ist für mich nicht die Kehrseite der Liebe, sondern bisweilen ein legitimes Mittel, um für etwas einzustehen, das man liebt. Ich kann mich nicht für etwas in die Kurve legen, das mir nichts bedeutet. Die Wut ist ein Umweg, den man als Künstler nehmen kann, um am Ende doch wieder Liebe einzufordern. Beim Textschreiben denke ich seit jeher, vom Privaten ausgehend, in größeren Dimensionen. Auch private Ängste versuche ich so zu formulieren, dass sich der Zuhörer darin wiederfinden kann, ohne platt rüberzukommen. ‚Krieg böse' wäre ein schlechter Titel. Natürlich ist Krieg böse, dennoch lässt sich diese Tatsache auch anders ausdrücken."
Niedecken erwähnt den Titel des berüchtigten Bildes des Malers Martin Kippenberger nicht von ungefähr. Vorsätzlich schlecht gemalt, zeigt das Kunstwerk, um der Provokation willen, ein Kriegsschiff, auf dem ein Nikolaus als Wachposten positioniert ist. Kippenbergers Humor gefällt Niedecken, denn Humor ist auch eines seiner Lebensleitmotive. "Ohne Humor käme ich durch meine Melancholie gar nicht durch", konstatiert er. "Zum Glück kann ich mich selbst in den dunkelsten Momenten noch, sagen wir mal, satirischer Sichtweisen bedienen." Von denen leben zum Teil auch die vier Stücke, die Niedeckens aktuelles Album "Alles fliesst" pünktlich zum runden Geburtstag in einer Neuauflage erweitern.
Neu sind die allerdings nur, weil sie erst jetzt als Studioversionen erscheinen. Tatsächlich zählen Lieder wie "Leev Frau Herrmanns" zu den ersten Stücken, die der Dreh- und Angelpunkt von Bap auf Kölsch verfasste. Der Sammelwütige besitzt insgesamt fünf Papierordner mit der Aufschrift "Raritäten", in denen sich Textfragmente befinden, die über Jahrzehnte ihren Weg nicht auf Platten, sondern in sein Archiv fanden. "Dabei handelt es sich nicht um Tondokumente, wie Neil Young sie glücklicherweise für die Nachwelt festhielt. In meinem Fall sind es DIN A4-Zettel, die ich alphabetisierte und abheftete. Irgendetwas sollte zu meinem bevorstehenden Geburtstag geschehen. Da wir nicht auf Konzertreise gehen können, habe ich vier alte, zur Hälfte unveröffentlichte Stücke aus meinen Raritätensammlern herausgezogen, vertont und aufgenommen. Ich war ganz erstaunt als ich das Lied über die Frau Herrmanns wiederentdeckte, die ich Mitte der 70er-Jahre während meiner Zivildienstzeit kennen- und schätzen lernte. Bislang war ich nämlich davon ausgegangen, meinen ersten Song auf Kölsch erst 1977 geschrieben zu haben. Das selbstangelegte Archiv hat mich eines Besseren belehrt."
"Helfe kann dir keiner" wähnte Niedecken lange als erstes Lied aus seiner Feder in seiner "Muttersprache" Kölsch. Auch daran kleben Erinnerungen, war es doch der erste Teil einer Song-Trilogie, in der er die Erfahrungen mit seiner "Sandkasten"-Liebe Hildegard-Anna verarbeitete. Sie ist jene "Anna", der auf dem zweiten Bap-Album "Affjetaut" das gleichnamige Stück, und auf "Für usszeschnigge!" das Lied "Jraaduss" gewidmet war. 11 Jahre lang arbeiteten sich die beiden aneinander ab, bis es dann gegen Ende der 70er-Jahre zum Bruch kam.
"Mich nervt alleine schon der Begriff 'Dylanologe'"
Zum Bruch zwischen Niedecken und Bob Dylan wird es vermutlich nie kommen. 2018 war der Kölner Dylan-Kenner bei Arte im Rahmen einer Spurensuche des Literaturnobelpreisträgers zu sehen, kürzlich erschien Niedeckens Buch über Dylan. Er ist natürlich nicht der einzige Verehrer des amerikanischen Songwriters, der Seiten über Seiten zum Thema Dylan füllen kann, was die Frage aufwirft, ob man Dylan zwangsläufig zur Wissenschaft erklären muss. "Nein", antwortet Niedecken resolut. "Mich nervt alleine schon der Begriff ‚Dylanologe'. Das ist der Inbegriff von Pseudowissenschaft. Mir geht es in der Betrachtung von Dylan um Poesie. Ich finde es nicht falsch, wenn sich Literaturwissenschaftler mit Dylan auseinandersetzen, aber man muss nicht den Privatgelehrten geben. Es geht am Ende des Tages darum, beim Hören eines Songs, oder beim Lesen eines Gedichts eine sinnliche Erfahrung zu machen. Es gibt ja auch ‚Zappalogen', so grausig sich das auch für den guten und geschätzten Frank ausnehmen würde, wenn er es erlebt hätte."
Gibt es auch "Bapologen"? "Ja, die gibt es auch", sagt er und lacht. "Es ist rührig, dass Menschen einen Künstler oder eine Band zu ihrem Hobby küren. Aber man fragt sich schon, ob die Leute nichts besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen. Einen Dylan-Kongress würde ich nicht besuchen wollen, weil ich dort entweder irgendwann laut schreien oder laut lachen müsste. Sowas kann schnell Richtung ‚Das Leben des Brian' kippen."
Seinen 70. Geburtstag wird er zwar feiern lassen, er geht die Festlichkeit aber eher in "Duldungsstarre" an, wie er launisch anmerkt. In seinem Elternhaus, dem sein streng gläubiger Vater vorstand, seien wegen dessen katholischer Grundüberzeugung vor allem die Namenstage, weniger die Geburtstage gefeiert worden, entsinnt er sich.
Schwerer Schlaganfall mit 60
Und heute? "Meine Frau ist das ‚Geburtstagstierchen' in unserer Familie", erzählt Niedecken. "Ihr kann man auch nichts entgegensetzen, man wird einfach abgefeiert. Die Kinder sind das gewohnt, sie kommen auch extra nach Köln, wenn sie Geburtstag haben. Ich hingegen lasse derlei Feierlichkeiten, gelinde gesagt, eher über mich ergehen."
Hat er einen Wunsch zu seinem 70.? "Noch eine Weile mit meiner Familie zusammen sein und reisen dürfen - all das geht nur, wenn man einigermaßen gesund ist. Ich tue alles dafür, dass es funktioniert, ich lebe gesund, ich treibe meinen Sport und arbeite weiter. Meine Mutter war die Meisterin der wunderbaren Lebensweisheiten", sagt er. "Sie meinte mal: ‚Wer nicht alt werden will, muss jung sterben'. Damit war für sie das Thema Alter durch."
Vor zehn Jahren hat Niedecken einen schweren Schlaganfall erlitten. Sein "Schutzengel" Tina rettete ihn, indem sie schnell reagierte. Damals hätte nicht viel gefehlt, und er wäre schon mit 60 von der Bühne abgetreten. "Ich wäre nicht beruhigt gestorben", schreibt er am Ende seiner zweibändigen Erinnerungen, die jetzt erstmals in der Zusammenschau erschienen sind. "Der Tod hätte mich auf dem falschen Fuß erwischt." Alles was seitdem noch gekommen ist, betrachtet er als Zugabe. Und das ist mittlerweile so einiges.
Wolfgang Niedecken: 70 Jahre, "Für 'ne Moment" und "Zugabe" in einem Band - mit neuem Vorwort, zahlreichen Abbildungen und kompletter Diskographie, (Hoffmann und Campe Verlag, 896 Seiten, 29,90 Euro); Wolfgang Niedecken über Bob Dylan, (KiWi Musikbibliothek, 240 Seiten, 14 Euro)
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