Wolfgang Niedecken: "Bisher konnte man alles wegzappen"

Für BAP-Sänger Wolfgang Niedecken ist es höchste Zeit, dass sich die Europäer einigen unangenehmen Wahrheiten stellen. Ein Interview über Politik, das Musikerleben und die nötigen Auszeiten.
von  (kd/spot)

Die Kölschrock-Urgesteine BAP feiern 2016 ihr 40-jähriges Bestehen, dennoch blickt Frontmann Wolfgang Niedecken (64, "Anna") auf dem neuen Album "Lebenslänglich" eher nach vorne als zurück. Nicht zuletzt, weil auf dem Werk auch ein Schwung neuer Musiker sein Studio-Debüt gibt und damit auch ein neuer Abschnitt in der Bandgeschichte eingeläutet wird - ein Umstand, dem auch die offizielle Umbenennung in Niedeckens BAP Rechnung trägt. Die Nachrichtenagentur spot on news hat sich mit Niedecken über Ohrwürmer, Ausverkaufs-Vorwürfe und die Probleme unserer Zeit unterhalten.

Sehen Sie das Video zu "Dausende von Liebesleeder" von Niedeckens BAP auf Clipfish

 

"Lebenslänglich" ist das erste Studio-Album, seit Sie die Zeit der festen Besetzungen bei BAP für beendet erklärt haben. Was macht da genau den Unterschied zu früher aus?

 

Wolfgang Niedecken: Mir kam das im Laufe der Zeit immer seltsamer vor und irgendwann habe ich dann gesagt, dieses Märchen kann man nicht mehr aufrechterhalten. Die Vorstellung, dass wir ständig wie die sieben Zwerge in unserer Stammkneipe stehen und überlegen, wo wir morgen die Welt aus den Angeln heben, ist doch Quatsch. Wir leben in verschiedenen Städten, haben alle Familie, spielen teilweise in anderen Bands. Es ist fast ein Kunststück, uns terminlich so abzusprechen, dass wir zusammen ins Studio und auf Tour gehen können. Das heißt nicht, dass die Einzelnen mit weniger Herzblut bei der Sache sind. Jeder gibt sein Bestes und BAP ist für alle die Hauptband.

 

Der Song "Die Ballade vom Vollkasko-Desperado" handelt von den Ausverkaufs-Vorwürfen, die immer wieder gegen Sie erhoben werden. Wie gehen Sie ansonsten damit um?

 

Niedecken: Das sind ein paar Ewiggestrige, die sich immer noch nicht mit der letzten Umbesetzung vor 16 Jahren abgefunden haben, als Klaus Heuser die Band verlassen hat, weil er international Karriere machen wollte. Der wird jetzt gerne hochstilisiert als Ausgestoßener oder so. Da gibt es welche, denen kann man das ewig immer wieder neu erklären und trotzdem kapieren sie es nicht. Das nennt man Ignoranz, mich langweilt das einfach nur noch.

 

Was tun Sie, wenn Sie wie im gleichnamigen Lied eine "Auszeit" brauchen?

 

Niedecken: Ich bin da flexibel. Mal schaffe ich das, indem ich mir einfach zuhause einen guten Film angucke, einen Roman lese, ins Kino oder in eine Ausstellung gehe. Oder ich fahre übers Wochenende in unser Haus in der Eifel, oder ich verbringe einen Sommer in der Türkei und komme mal endlich so runter, wie ich es gerne hätte. Das ist immer unterschiedlich, wenn ich da immer das gleiche Rezept hätte, wäre es ja auch schon wieder langweilig.

 

In "Dä Herjott meint et joot met mir" singen Sie: "Irgendein Ohrwurm kriecht immer noch durchs Hirn" - welcher Ohrwurm hat Sie denn zuletzt verfolgt?

 

Niedecken: In dem Fall ist ja die Rede von einem Ohrwurm, den ich selber gerade in einem Konzert gespielt habe. Das ist ja eine Situation, die man als Musiker nach einem Konzert oft hat. Man ist müde, will schlafen, aber man ist noch so wahnsinnig aufgeputscht vom Konzert. Das Adrenalin lässt nicht nach und dann hat man noch irgendeinen Song vom Konzert im Kopf und kann einfach nicht einschlafen. Und der Ohrwurm, den ich momentan im Kopf habe, ist tatsächlich "Dä Herjott meint et joot met mir", damit bin ich heute Morgen wach geworden... (lacht) Da schließt sich der Kreis dann!

 

Das Album haben Sie bereits im Mai 2015 fertiggestellt, trotzdem wirken gerade die politischen Texte darauf nun eher noch aktueller als damals...

 

Niedecken: Das stimmt leider. Bisher konnten wir das notfalls alles noch wegzappen. Die ganzen Bürgerkriege und Flüchtlingslager, den Terrorismus, das alles konnte man im Fernsehen wegzappen und auf ein anderes Programm gehen. Mittlerweile kann man das nicht mehr, denn mittlerweile ist der Terrorismus bei uns angekommen. Jetzt ist es soweit, jetzt haben wir das Problem vor der Tür stehen. Und jetzt ist es wirklich allerhöchste Zeit, dass man sich mal mit bitteren Wahrheiten auseinandersetzt.

 

In "Vision vun Europa" schildern Sie die Hoffnungen, die Flüchtlinge auf unseren Kontinent setzen. Nun hat Europa gerade in letzter Zeit in der Krise nicht das beste Bild abgegeben. Wie sehen Sie das?

 

Niedecken: Das ist ganz furchtbar. Gerade die osteuropäischen Länder müssen lernen, dass Europa nicht nur eine Zugewinngemeinschaft ist, sondern in erster Linie eine Solidargemeinschaft. Das ist fast schon eine bittere Ironie wenn man sich überlegt, dass die Freiheitsbewegung von Polen sich "Solidarnosc" nannte. Wie die sich momentan verhalten, das ist unbegreiflich. Und natürlich haben wir alle Angst vor einem Rechtsruck in Europa. Da stehen uns noch schwere Zeiten bevor. In Frankreich kann Front National an die Macht kommen, und dann sehe ich schwarz. Das würde bitter enden.

 

Sie engagieren sich in verschiedenen Wohltätigkeitsprojekten. Welches davon liegt Ihnen am meisten am Herzen?

 

Niedecken: Am wichtigsten ist mir seit Jahren "Rebound" für die ehemaligen Kindersoldaten im Ost-Kongo. Da haben wir mittlerweile zwei Projekte, das sind so etwas wie Berufsschulen, wo wir ehemaligen zwangsrekrutierten Kindersoldaten und zwangsprostituierten Mädchen Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen und einen Beruf, mit dem sie danach durchs Leben kommen können. Ich werde versuchen, Anfang des Jahres, noch bevor die Tour losgeht, wieder hinzukommen, um zu sehen, wie der Stand ist. Man muss sich dem ab und zu aussetzen. Wenn man das immer nur anhand von Fotos oder Berichten erfährt, dann fehlt einem was. Man muss das auch riechen, fühlen und spüren.

 

 

 

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