Wie erotisch ist das Weihnachtsoratorium?
Sind Sie bibelfest? Kennen Sie die großen Choräle? Und: Wie erotisch ist das Weihnachtsoratorium? Die Theologin Jutta Krispenz hat es erforscht
Es ist unser Soundtrack für Weihnachten: Zig Mal erklingt das Weihnachtsoratorium in der Adventszeit alleine in München. Aber es gibt die zweite Ebene: den Text! Den hat – zusammen mit Johann Sebastian Bach – Christian Friedrich Henrici verfasst. Und der war auch bekannt für Satirisches, Derbes, Zotiges. Aber was wollen die Texte uns sagen? Die Theologin Jutta Krispenz hat sie für uns unter die Lupe genommen.
AZ: Frau Krispenz, das Weihnachtoratorium wird vor allem als musikalisches Ereignis wahrgenommen, der Text hingegen wird belächelt.
JUTTA KRISPENZ: Ja, man hört sich die Musik fast „trotz“ der Texte an. Natürlich ist manches heute schwer zu verstehen, scheint etwas abgedreht. Aber das Urteil ist ungerecht, schon weil sich der Dichter unfassbar genau mit Rhythmus und Melodie auskennen musste. Das hat ja auch zur Annahme geführt, dass Bach selbst viel am Text gearbeitet hat. Aber letztlich wird doch Christian Friedrich Henrici das Meiste geschrieben haben.
Unter seinem Künstlernamen Picander. Von ihm gibt es ja auch Liebesdichtung und Texte für Bachs weltliche Kantaten, wie die Herkules-Kantate, die man ein Jahr vor dem Weihnachtsoratorium im Zimmermannschen Kaffeehaus aufgeführt hat, wo es lustig zuging.
Es gibt ein Zitat von Christian Friedrich Henrici über sich selbst: „Picander kann ja nichts als lustige Verse machen, denn dass er beten soll, das ist kein Werk für ihn.“ Das zeigt ja, dass bei ihm die Frömmigkeit nicht an erster Stelle steht. Aber er hat dann doch Vieles geschrieben, wie ohne Zweifel auch die Matthäuspassion. Man muss auch die Zeit nach 1700 sehen und das Leipziger Umfeld. Da gibt es die drei Strömungen: das orthodoxe Luthertum, die Strömung des Pietismus und die rationale Aufklärung. Das alles hat auf Picander und Bach eingewirkt.
Lesen Sie auch: Simone Kermes über Bachs Weihnachtsoratorium
Bach hat auch viel Weltliches geschrieben und getrieben.
Ja, der war sicher kein Frömmler, sondern ein lebenszugewandter Kerl. Henrici und Bach verband nicht nur die Arbeit zwischen Librettist und Komponist, sondern eine Freundschaft. Henricis erste Frau war Taufpatin einer Bach-Tochter.
Was kann man also aus dem Text des Weihnachtsoratoriums herauslesen?
Dass Bach und Picander es den leicht zu kränkenden orthodoxen Lutheranern mit dem Weihnachtsoratorium sicher recht machen wollten. Aber man spürt eben auch einen Hang zu dieser sehr individuellen, spirituellen, über das Herz gehenden Glaubenserfahrung des Pietismus.
Wie zum Beispiel in der Wiegenlied-Arie „Schlafe, mein Liebster“ mit Zeilen wie „Labe die Brust, empfinde die Lust, wo wir unser Herz erfreuen!“
Dort sieht man – bei aller schweren Verständlichkeit der barocken Sprache für uns heute – auch die erotische Untermalung. Zur Geburtsgeschichte Jesus Christus erklingen auch Liebeslieder. Das beginnt beim Bild der Braut aus dem Hohen Lied Salomons, geht weiter über die weibliche Symbolik der Stadt – hier Jerusalem – als Frau. Das kennt man aus altorientalischen Darstellungen von Stadtgöttinnen. Und dann gibt es noch das alte Ehegleichnis als Bild für den Bund zwischen Gott und seinem Volk, der mit der Ehe zwischen Mann und Frau verglichen wird.
Was ist Ihnen textlich noch aufgefallen?
Dass es im grundsätzlich innigen und feierlich-fröhlichen Weihnachtsoratorium auch schon den ernsten Unterton der Passion Jesus Christus gibt, den des Todes. Weihnachten bekommt ja auch nur seinen Sinn, wenn Jesus am Ende seinen Erlösertod für uns stirbt.
Dieser Todesanklang liegt sicher auch an der Lebenswirklichkeit der Zeit mit hoher Kindersterblichkeit und einer Lebenserwartung von 35 Jahren.
Und man darf nicht vergessen: Die Choräle, die in das Weihnachtsoratorium eingebaut sind, stammen alle von Dichtern und Komponisten wie Paul Gerhardt, die den Dreißigjährigen Krieg voll miterlebt haben. Das Bild des Krieges ist jedenfalls sehr präsent bis zum Schlusschoral: „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben!“
Die Leipziger Bürger werden beim Hören die meisten Choralstrophen gekannt haben.
Sicher, es gab sogar eine Art Pflichtbibliothek, die ein Protestant so haben musste, was auch vom Ortspfarrer kontrolliert wurde: Die Lutherbibel, einen Katechismus, ein Gesangbuch und einen Almanach. In den Gesangbüchern haben die Leute auch eifrig gelesen.
Dahinter steckt auch die protestantische Idee, dass sich Glaube und Vernunft nicht ausschließen.
Und das beginnt schon mit der revolutionären Idee Luthers, die Bibel ins Deutsche zu übersetzten, damit sich die Menschen selbst ein Bild vom Glauben machen können.
Daher war auch das Schulwesen in protestantischen Gebieten früher schon weiter.
Ich habe über einen Bauern des 18. Jahrhunderts gelesen, der im Gesangbuch festgestellt hat: Da stehen ja immer so Namen. Er hat den Pfarrer gefragt und festgestellt, dass die Liedtexte gar nicht das Wort Gottes sind, sondern es Verfasser gibt. Daraufhin hat er selbst begonnen, Gedichte und Lieder zu schreiben und sich mit der Zeit eine ordentliche Belesenheit verschafft.