Vor- und Nachteile der Demokratie in der Musik

Auch nach elf Stunden können sich die Berliner Philharmoniker nicht auf einen neuen Chefdirigenten einigen.
von  Robert Braunmüller

Für eine Konzertreise nach Warschau hatte der Dirigent Benjamin Bilse nur Fahrkarten der vierten Klasse besorgt. Das ärgerte die unterbezahlten Musiker seiner Kapelle. 54 von ihnen beschlossen, ihr eigenes Orchester zu gründen, das sie selbst verwalten wollten. Sie verpflichteten sich zum „gegenseitigen unverbrüchlichen Zusammenhalten“ und zur persönlichen Haftung.

Am 1. Mai 1882 wurde das neue Orchester gegründet, mit dem Anspruch, das beste der neuen Reichshauptstadt zu werden, das bald den Namen Berliner Philharmonisches Orchester führte. Am Montag wollten die 123 wahlberechtigten Musiker einen Nachfolger für den 2018 auf eigenen Wunsch ausscheidenden Simon Rattle wählen. Doch die elfstündige Marathonsitzung endete am späten Abend ohne Ergebnis.

Vielleicht wird erst in einem Jahr neu gewählt Die Philharmoniker sind das einzige Spitzenensemble, das selbstständig über seinen Chefdirigenten entscheidet. Und sie sind ziemlich stolz darauf. Das heißt aber nicht, dass andere Orchester nicht ebenfalls über ihre Chefs abstimmen würden.

Auch die Münchner Philharmoniker wählten Valery Gergiev in einer Orchesterversammlung zum Chefdirigenten. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hat sich kürzlich mit überwältigender Mehrheit für eine Vertragsverlängerung für Mariss Jansons um drei weitere Jahre bis 2021 ausgesprochen.

Allerdings, nach allem was man darüber weiß, nicht in einer Kampfabstimmung wie in Berlin, sondern in einer Friedenswahl: Bei diesen Orchestern hat man nie etwas von einem Gegenkandidaten vernommen. Management und Musikervertreter arbeiteten bei der Findung zusammen, die Letztentscheidung lag im zweiten Fall aber beim BR-Intendanten Ulrich Wilhelm und beim ersten im Rathaus: beim Münchner Stadtrat.

Das ist bei den Berliner Philharmonikern anders. Sie sind seit 2002 eine Stiftung öffentlichen Rechts. Im ersten Wahlgang konnte jeder Dirigent vorgeschlagen werden. Danach wurde ausgesiebt. Trotz mehrerer Wahlgänge habe man sich auf keinen neuen künstlerischen Leiter einigen können, sagte der Orchestervorstand und Kontrabassist Peter Riegelbauer am Montag.

Was bei der Beratung in der Berliner Jesus-Christus-Kirche genau geschah, wissen nur die Musiker. Dass ein Dirigent abgesagt habe, wird bestritten. Wahrscheinlich hat kein Kandidat die ominöse „deutliche Mehrheit“ erreicht. Und so kam es zu einem Patt – möglicherweise wegen einer hohen Zahl an Enthaltungen.

Im Gespräch für die künstlerische Leitung waren unter anderem Andris Nelsons, Chef des Boston Symphony Orchestra, Christian Thielemann, Leiter der Staatskapelle Dresden, und Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Jeder steht für eine andere künstlerische Ausrichtung. In dieser Frage scheinen die Musiker tief uneins und zerstritten.

Ob die genannten Dirigenten tatsächlich zur Wahl standen, weiß niemand gewiss. Wie geht es nun weiter? Nach der geplatzten Wahl wollen die Berliner wieder auf Kandidatensuche gehen. Das Orchester werde sich dafür die nötige Zeit nehmen, so Riegelbauer. „Das kann auch ein Jahr dauern.“ Bis dahin wolle das Orchester über die Namen und die künftige künstlerische Ausrichtung intern beraten.

 

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