„Visons“ mit Véronique Gens

Das Münchner Rundfunkorchester entdeckt vergessene Opern-Raritäten aus Frankreich – diesmal auf einer Arienplatte mit der wunderbaren Sopranistin Véronique Gens
In ermüdender Regelmäßigkeit werden Wiederentdeckungen auf den Klassik-Markt gespült. Nicht immer lohnt sich die nähere Betrachtung, weil manche Werke und Komponisten zurecht in Vergessenheit geraten sind: Die Musikgeschichte irrt eben in aller Regel nicht. Umso staunenswerter ist das unermüdliche Engagement des Palazzetto Bru Zane: Dieses Forschungsinstitut mit Sitz in Venedig erschließt die Musik der französischen Romantik. Einen besonderen Schwerpunkt bilden Opern-Raritäten des 19. Jahrhunderts aus Frankreich. Es sind wahre Perlen, die die 2009 eröffnete Institution aus dem Dornröschen-Schlaf erweckt. Dafür wird mit Opernhäusern und Orchestern aus aller Welt zusammengearbeitet.
Eine ganz besondere und erfolgreiche Kooperation besteht mit dem Münchner Rundfunkorchester des Bayerischen Rundfunks. Jetzt ist der neueste Coup dieser Zusammenarbeit erschienen, nämlich eine Arien-Mix-CD aus verschiedenen Gattungen. Sie dokumentiert beispielhaft die gesamte Bandbreite des Engagements. Überdies präsentiert sich auf der CD eine Sängerin, die schon öfter bei Projekten des Palazzetto Bru Zane und des Rundfunkorchesters mit dabei war: die einnehmende Sopranistin Véronique Gens aus Frankreich. Zuletzt wurde in dieser höchst erfreulichen Konstellation die Einspielung des Vierakters „Proserpine“ von Camille Saint-Saëns realisiert, mit Aufführung im vergangenen Herbst im Prinzregententheater und in der Opéra Royal in Versailles unter der Leitung von Ulf Schirmer.
Ein französisches Konzeptalbum
Die jetzige CD haben Gens und das Münchner Rundfunkorchester mit dem Originalklang-Dirigenten Hervé Niquet eingespielt. Ein schillernder Reigen von Arien aus mehreren Gattungen ist herausgekommen. Vertreten sind: die ernste Oper (Camille Saint-Saëns’ „Etienne Marcel“, Frometal Halévys „La Magicienne“, Benjamin Godards „Les Guelfes“, Févriers „Gismonda“), die Opéra comique (Félicien Davids „Lalla-Roukh“), das Oratorium (César Francks „Les Béatitudes“ und „Rédemption“ sowie Jules Massenets „La Vièrge“) sowie die Kantate (Bizets „Clovis et Clotilde“ und Alfred Bruneaus „Geneviève“).
Statt eine beliebige Häppchen-CD zu kredenzen, wurde das Programm überdies ausgesprochen klug zusammengestellt. Das Motto „Visionen“ verweist auf den gemeinsamen thematischen Kontext. Alle Stücke kreisen um das Fantastische, Übernatürliche und Mystische, um religiöse Erleuchtung und Erbauung, um Exaltation und Ekstase. Dabei profitiert Gens einmal mehr von ihren einschlägigen Erfahrungen im Barock-Gesang, was ihr eine stilgerechte, sinnstiftende Ausgestaltung mancher Affekte erlaubt. Zudem passt die spezifische Färbung ihres Falcon-Soprans vortrefflich zu dem eingespielten Repertoire. Bei diesem besonderen Stimmfach changiert der Gesang zwischen dem Mezzosopran und dem dramatischen Sopran. Der Name geht auf Cornélie Falcon zurück: Sie hatte seinerzeit bei Uraufführungen von Meyerbeer und Halévy mitgewirkt. Somit ist diese Stimmlage eng mit der romantischen Oper aus Frankreich verbunden.
Stöbernder Klangkörper
Es fasziniert zu hören, wie Gens zwischen dem Lyrischen und Dramatischen sowie dem Hellen und Dunklen wechselt: sehr agil und differenziert, stets hellhörig. An ihrer Seite ist überdies ein Orchester zu erleben, das die schöpferischen Profile in den Musiken zielgenau und kenntnisreich durchdringt.
Mit konsequenter Entschlackung des Klangs, einer romanophilen Schlankheit und Klarheit, wird eine höchst farbenreiche Transparenz erreicht. Umso wirkungsvoller und einnehmender entfalten sich besondere Effekte: Dazu zählen das Nachahmen von Orgeln, Glocken oder celestischen Stimmen. Zugleich verlebendigen Gens und die Musiker dramatische Entwicklungen und Ausbrüche, die bisweilen von Giuseppe Verdi oder auch Richard Wagner inspiriert scheinen.
Das alles entwickelt eine feinsinnige Durchhörbarkeit, die der wunderbaren Gens ausgesprochen viel Raum zur Entfaltung schenkt und sie gleichzeitig trägt. Eine absolut hörenswerte CD, die überdies zeigt, wie unverzichtbar das zweite Orchester des Bayerischen Rundfunks für den Musikbetrieb ist: Dieser Klangkörper stöbert unaufhörlich in der Musikgeschichte, um das Repertoire beharrlich zu erweitern. Nicht immer scheint man das innerhalb und außerhalb des Senders zu schätzen.
Véronique Gens: „Visons“, Münchner Rundfunkorchester, Hervé Niquet, CD bei Alpha Classics