Valery Gergiev dirigiert die Klavierkonzerte von Prokofjew

Valery Gergiev führt einen Tag lang alle fünf Klavierkonzerte von Sergej Prokofjew mit fünf Pianisten und zwei Orchestern auf
Michael Bastian Weiß |
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Ob Valery Gergiev wohl nach all den Konzerten zuhause noch ein bisschen Musik hört – oder nun einfach die Stille genießt? In zehn Stunden hat er mit zwei Orchestern Musik aus vier Jahrhunderten musiziert, als Kernbestand sämtliche Klavierkonzerte Sergej Prokofjews. Kann dieser Marathon-Mann danach einfach abschalten, oder hallt die Musik noch lange im Geist weiter? Und wie geht es den Orchestern? Im letzten der fünf Konzerte fällt einer Geigerin der Bogen aus der Hand, der Konzertmeister hebt ihn galant wieder auf – die Orchester wurden allein physisch stark gefordert.

Mit einem Großeinsatz 20 000 Menschen mit Klassik erreicht!

Auch in puncto Publikumsbesuch gab es mittags und nachmittags eine leichte Delle. Zwar haben die Münchner Philharmoniker an diesem Wochenende des Mphil 360 Grad-Festivals beeindruckende 20 000 Menschen erreicht, aber der Gasteig war nicht vollständig besetzt. Das Festival muss sich erst noch etablieren.

Der Autor dieser Zeilen war ab den letzten drei Konzerten anwesend und gesteht gerne, auch an die Grenzen der Aufmerksamkeit gestoßen zu sein. So reagiert man wohl genervter als sonst, wenn etwa Jörg Widmann jeden zweiten Melodiebogen eines unsauber intonierten und schlampig phrasierten Klarinettenkonzert von Mozarts damit beendet, dass er in die Luft hoppelt.

Es ist auch die Frage, ob sich gerade Prokofjews Klavierkonzerte am besten für eine Gesamtschau eignen. Häufig ist in diesen Stücken der Pianist eingespannt in eine unbarmherzig mechanische Hetzjagd, bei der er zwar brillieren, aber wenig an tonlicher Ausbreitung zeigen kann. Weil sie so unablässig pianistische Salven abfeuert, verlangt diese Musik dem Hörer schon einige Kraft ab.

Im Vergleich der Pianisten der letzten drei Konzerte stürzt sich der gerade einmal 25-jährige Behzod Abduraimov aus Usbekistan mit dem größten Körpereinsatz auf die Tastatur, sein Ton ist im 3. Konzert C-Dur sehr perkussiv, dafür auch klar, kristallartig, die Musik wirkt am Schluss wie ein aberwitziges, entgleisendes Uhrwerk. Olli Mustonen hat im 5. Konzert G-Dur den duftigsten, weichsten Ton, geht aber dafür auch am ehesten in den massiven Tutti unter – vielleicht stellt sich hier bei den Münchner Philharmonikern und Gergiev doch eine gewisse Ermüdung ein. Es wäre ihnen wahrlich nicht zu verdenken.

Ernst gemeinte Zusammenarbeit von Deutschen und Russen

Dagegen stellt Alexei Volodin das heikle 4. Konzert B-Dur so bravourös in den Raum, als ob er nie etwas anderes gespielt hätte. Wohlgemerkt ist es für die linke Hand allein geschrieben! Volodins Linke verfügt über eine geradezu stählerne Kraft und Ausdauer, streckenweise ist es die eine Hand allein, die das gesamte Orchester begleitet und dabei einen strahlenden Glanz entfaltet. Man fragt sich, welche anderen Stücke Volodin eigentlich noch mit einer Hand allein spielen könnte.

Das so interessante wie selten gespielte 4. Konzert Prokofjews wird vom St. Petersburger Mariinsky Orchester begleitet, das sich mit den Münchner Philharmonikern an diesem Tag abwechselt. Gergiev steht den St. Petersburgern seit 1988 vor, entsprechend reibungslos funktioniert die Kommunikation: Die Musiker reagieren auf noch so kleine Geste ihres langjährigen Chefs, auch auf die rätselhaften. In der Suite zu „Simplicius Simplicissimus“ von Karl Amadeus Hartmann begeistern hochbrillante Blechbläser, in Rodion Schtschedrin Orchesterkonzert „Naughty Limericks“, einem geradezu zirzensisch aufwendig komponierten Ulk, überwältigt förmlich die Präzision des Zusammenspiels.

Die Streicher freilich erscheinen stets sehr dicht gefügt. Obwohl Gergiev, oft sehr hörbar, mit den Musikern atmet, stellt sich nicht der Eindruck eines atmenden Gesamtkörpers ein. Die einzelnen Linien sind auch, vergleicht man die Klangästhetik etwa mit dem London Philharmonic Orchestra oder dem Orchestre de Paris, eher unscharf als klar geführt. Hier ergeben sich interessante Übereinstimmungen zu den Philharmonikern, wenn sie unter Gergiev musizieren: Das Münchner Blech ist ganz ähnlich machtvoll, wie Max Regers Böcklin-Tondichtungen demonstrieren, die Streicher aber haben unter Gergiev bereits eine leicht erdige, wenig durchlässige Substanz entwickelt. Obwohl sie aus anderen Traditionen stammen, nähert seine Klangvorstellung das deutsche und das russische Orchester einander an.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, daß es der neue Chefdirigent der Münchner Philharmoniker ernst meint mit der angekündigten deutsch-russischen Zusammenarbeit, die für beide Seiten nur Früchte bringen kann. Insofern war dieser Marathon, auch, wenn er wahrscheinlich alle ein wenig überforderte, ein wahrer Paukenschlag zu Gergievs Einstand. Vielleicht sogar der Beginn einer Ära?

Eine gewisse Zeit übrigens sah es so aus, als ob die Musik auf einen Herrn in den ersten Reihen besonders belebend gewirkt hätte. Er betrat nach Hartmanns Stück das Podium und winkte in das Publikum. Karl Amadeus Hartmann aber ist bereits 1963 verstorben. Es war – der Sohn des Komponisten, der stellvertretend für seinen Vater den wohlverdienten Applaus entgegennahm.

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