Kritik

Überwindung des Irdischen: Max Richter in der Isarphilharmonie

Max Richter und sein Streichquintett betören das Münchner Publikum: Die AZ-Kritik
Michael Stadler |
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Max Richter.
Yulia Mahr Max Richter.

Auf der Bühne der Isarphilharmonie ragt hinter den Instrumenten ein schmaler, in kleine Segmente unterteilter LED-Leuchtstab monolithisch in die Höhe. Im Laufe des Konzerts gewinnt der Lichtstrahl an Intensität, verblasst wieder, passend zum An- und Abschwellen der Musik. Mal färbt er sich bläulich, mal rot und wirkt in der Dunkelheit wie ein Riss in der Realität.

Eine andere Sphäre scheint sich dem Blick einen Spalt breit zu öffnen, und damit ist man schon bei der Musik von Max Richter. Eine Hoffnung auf Transzendenz, eine Überwindung alles Irdischen kann man in sein neoklassisches Werk hineinlesen. Gelegentliche Orgeltöne unterstreichen den sakralen Charakter seiner minimalistischen Kompositionen, die er in der Isarphilharmonie mit einem Streichquintett - zwei Geigen, eine Bratsche, zwei Celli - und sich selbst an den Tasten zum Besten gibt.

Das große Ganze

Zwei Alben, ein neues, ein altes, spielen sie an diesem Abend durch, Richters soeben erschienenes, neuntes Studioalbum "In A Landscape" ist in der ersten Hälfte zu hören. Zuvor erklärt der 58-jährige Komponist, dass er in seinem neuen Werk angesichts einer sich immer stärker polarisierenden Welt Gegensätze miteinander versöhnen wollte: akustische und elektronische Musik, Mensch und Natur, der Einzelne und das große Ganze. Zudem sind in eingestreuten Soundcollagen, die er auf dem Album "Life studies" nennt, Naturaufnahmen zu hören: Vogelgezwitscher, Schritte im Wald, aber auch in einem Flughafengebäude.

Da wandelt einer durch die Welt und macht das, was er hört und an Klängen erzeugt, zum Teil seiner Kunst. Richters Kompositionen flanieren ebenfalls, sie mäandern zwischen naheliegenden Akkorden, scheuen Dissonanzen, verweilen beim Wohlklang. Es gibt keine großen dynamischen Wechsel, wenn, dann ein stetes Crescendo wie am Ende des Konzerts.

Schlichte Schönheit

Aber die Motive sind in ständiger Bewegung, oszillieren zwischen Dur und Moll. Die absteigenden und aufsteigenden Linien der Stimmen laufen parallel, manchmal diametral zueinander und können beim Zuhören innere Schwingungen auslösen.

So einfach und effektiv wie der Lichtstrahl auf der Bühne sind auch Richters Stücke. Wer beim Wort "Neoklassik" die Nase rümpft, wird an diesem Abend eh nicht im Saal sitzen. Diejenigen, die da sind, lassen sich vermutlich ergreifen und auch das Streichquintett gibt sich der schlichten, ausgetüftelten Schönheit hin. Manchmal erhebt sich eine Stimme über die anderen, die Bratsche übernimmt die etwas elaboriertere Melodie von "On The Nature Of Daylight", bekannt aus Filmen wie Scorseses Identitätsthriller "Shutter Island" oder dem Sci-Fi-Drama "Arrival".

Ursprünglich erschien das Stück auf "The Blue Notebooks", dem Album, mit dem Richter und sein Quintett die zweite Hälfte des Abends bestreiten. Er habe dieses Werk vor 20 Jahren als Reaktion auf den Ausbruch des Irak-Kriegs komponiert, erzählt Richter in einer kurzen, präzisen Ansage. Die Zweifel an der Welt führten ihn zu Franz Kafka und den acht blauen Octavheften, die Kafka in den Jahren 1917 bis 1919 für Tagebucheinträge nutzte. Zudem fügte Richter einige Texte des polnischen Dichters Czeslaw Milosz in den nahtlosen Fluss seines Albums ein.

Sarah Sutcliffe liest die poetischen Textpassagen eindrücklich über die Musik ein. Mit "The Blue Notebooks" leistete Richter einst Pionierarbeit in der Kombination von klassischen und elektronischen Elementen, experimentierte mehr mit der Dynamik, weshalb die zweite Hälfte des Konzerts auch abwechslungsreicher ist. Die Sehnsucht nach Ruhe und Kontemplation erfüllt vor allem die erste Hälfte: "In A Landscape" dürfte in den Arbeits- und Schlafzimmern gestresster Großstädter, in den Kopfhörern der Flaneure und Rasenden nun öfters laufen. Die glasklaren Streicherpassagen, die fragmentarischen Klavier-Soli Richters betören zumindest das Publikum in der Isarphilharmonie.

Manche wandeln dabei auf dem schmalen Grat zwischen Wachsein und Schlaf, träumen sich einfach ein bisschen weg.

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