Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Den Hut lüften
Schläfrigkeit hat sich im Herkulessaal breit gemacht, besonders die jugendlichen Hörer auf den benachbarten Plätzen sind in eine Art Trance verfallen. Doch plötzlich reißt es die jungen Damen und Herren halb von den Sitzen, ja, sie sind geradezu baff, wie man halblauten Ausrufen wie "Boah!" und "Echt jetzt!?" entnehmen kann. Denn völlig unerwartet öffnen sich die Türen im Bühnenhintergrund und die ernst dreinblickenden Männer des Chors des Bayerischen Rundfunks schreiten herein. Spätestens, als Ilker Arcayürek mit schlankem Tenor und freundlicher Ekstase "Das Ewig-Weibliche/Zieht uns hinan" anstimmt, verwandelt sich das Staunen aber in Heiterkeit.
Diese Reaktionen auf "Eine Faust-Symphonie" von Franz Liszt sind weniger ungezogen als ehrlich. Was sich der Komponist Mitte des 19. Jahrhunderts als feierliche Apotheose mit Goethe-Worten vorgestellt hat, wirkt heute komisch. Entsprechend selten wird das ehrgeizige Werk ja auch aufgeführt. Und gleichzeitig sollte man es doch nicht völlig ausmustern, weil Liszt bei allen Irritationen und Längen in der "Faust-Symphonie" eine unübersehbare Fülle an Experimenten wagt: den frühen Versuch einer zwölftönigen Reihe, irisierende Harmonien, instrumentale Effekte wie intimste Kammermusiken. Dem Dirigenten Philippe Jordan liegt das alles merklich am Herzen, er fordert vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks durchgehende Aufmerksamkeit ein.
Rustikaler Gesamtklang und wenig Lust an Effekten
Doch löst er auch die Probleme dieses Stücks? In komplizierten Passagen hält er die Musiker zusammen, doch der Gesamtklang ist oft rustikal, die Bläser setzen mitunter zu laut ein, während sie im Tutti untergehen. Jordan hält bei langsamen Tempi die Spannung, die ausufernden Formen aber kann auch er nicht übersichtlich machen. In einem anderen seltenen Werk von Liszt, dem "Totentanz" für Klavier und Orchester, wird noch deutlicher, dass der Schweizer zwar für Disziplin sorgt, sich darüber aber die Lust an den Effekten versagt, die hier zwischen mystischer Versenkung und Gruselkabinett schwanken.
Auch der französische Pianist François-Frédéric Guy bemüht sich zu retten, was an Geschmackssicherheit noch zu retten ist, anstatt dass er Heulen und Zähneklappern hemmungslos ausleben würde. Allerdings macht er mit seinem trocken stechenden Anschlag die Widerständigkeiten seines Parts schön knirschend hörbar.
Ein Schmankerl ist schließlich "Eine Faust-Ouvertüre" des frühen Richard Wagner, ein Stück, das zu unrecht immer unterdrückt wird. Viele Bekannte begegnen einem hier: Beethoven, Mendelssohn und Schumann, aber auch Nachgeborene wie Bruckner und Mahler. Würde man einen Hut tragen, man müsste ihn ständig lüften. Immerhin würde einen das vor Schläfrigkeit bewahren...
Das Konzert kann man auf br-klassik.de anhören.