Sting auf dem Tollwood: Liebe bei jedem Atemzug

München - Künstler brauchen den Applaus, so lautet das gängige Klischee. Auf Sting scheint das nicht so recht zuzutreffen. Das Publikum im ausverkauften Tollwood-Zelt würde ihm gern seine Liebe und Bewunderung zujubeln, bekommt aber kaum Gelegenheit dazu, denn Sting lässt fast jeden Song in den nächsten übergehen und übertönt so jeden Beifall. Als er dann nach dem achten Song, "Fields Of Gold", mal kurz innehält, schlägt das Publikum zurück. Es tobt, stampft, schreit, wird immer lauter und lauter, hört einfach nicht mehr auf: eine Eruption, wie man sie in Konzerten selten erlebt. "Es ist genug", muss Sting irgendwann auf Deutsch sagen, damit er weiterspielen kann.
Eigentlich hätte Sting schon 2019 in München spielen sollen
Aber das Publikum hat ja auch lange auf ihn warten müssen: Dieses Konzert hätte schon, Achtung, 2019 stattfinden sollen. Damals musste Sting aus gesundheitlichen Gründen absagen und auf das nächste Jahr verschieben. Dann wurde die Welt krank, auch 2020 und 2021 wurde das Konzert verlegt. Beim vierten Anlauf legt Sting jetzt mit "Message In A Bottle" und "Englishman In New York" grandios los - und live wird nochmals klarer, was für ein Ausnahmemusiker dieser Mann ist.
Stings Stimme ist immer noch immens kraftvoll
Seine Stimme ist nicht nur charismatisch und wunderschön, sondern auch mit 70 noch immens kraftvoll, was live den Unterschied ausmacht, selbst wenn das Headset-Mikro für den Sound nicht die optimale Wahl zu sein scheint. Zugleich spielt er elegant Bass, prägt mit seinen sanft gezupften Linien den Klang der Band. Und dann sind da natürlich all die großen Lieder.
2019 hat er die erfolgreichsten für das Album "My Songs" nochmals in neuem Gewand und modernem Sound eingespielt - ein Fehlschlag, die Versionen blieben hinter den Originalaufnahmen zurück. Live aber ist von Wummerbässen keine Spur, die für die gleichnamige Tour nochmals milde umarrangierten Stücke klingen meist luftig-leicht und immer gut, ob "If You Love Somebody Set Them Free" oder "So Lonely". Da schiebt Sting so zart wie elegant ein paar Passagen von "No Woman No Cry" ein und bedankt sich somit bei Bob Marley, dessen Akkordwechsel er für den Police-Hit übernommen hatte.
Vor dem geradeaus rockenden "Brand New Day" fragt Sting sein jüngstes Bandmitglied Shane Sager neckisch, ob er sich wirklich zutraue, auf der chromatischen Harmonika den Part zu spielen, den auf dem Album Stevie Wonder gespielt hat. "Yeah", sagt der und verspricht nicht zu viel.
"Walking On The Moon": Neue Drummer gibt den Stewart Copeland
Und yeah, auch andere Musiker der siebenköpfigen Band bekommen ihre Momente: Backgroundsänger Gene Noble tritt für ein Duett bei "Shape Of My Heart" nach vorne und legt eine beeindruckende R&B-Performance hin. Und der neue Drummer Zach Jones gibt den Stewart Copeland bei "Walking On The Moon".
Den Song hat Sting in München geschrieben, wie ihm erst nachträglich einfällt. Nachts sei ihm im Hilton das Riff zugeflogen, und als er aus dem Fenster sah, leuchtete ihm der Vollmond entgegen. "Danke, München!", sagt Sting. Danke zurück, jubelt das Publikum.
Beim Raï-Pop von "Desert Rose" treten Dominic und Rufus Miller nach vorn für ein zweistimmiges Gitarrensolo. Dominic sei seit dreißig Jahren seine rechte Hand, sagt Sting, und zur Absicherung habe er dessen Sohn Rufus in die Band geholt. Was er nicht sagt, aber unüberhörbar ist: Er selbst hat seinen potenziellen Ersatzmann auch dabei, seinen ältesten Sohn Joe Sumner.
Sohn Joe Sumner spielt im Vorprogramm
Joe ist auch schon 45 und souverän genug, die dauerhafte Starthilfe seines berühmten Vaters anzunehmen: Wie schon 2017 in der Olympiahalle spielt er im Vorprogramm, leiht sich Bühne und Fans von Sting und weiß denen zu gefallen. Die Songs, die er zur eigenen Gitarrenbegleitung singt, sind zwar nicht so stark wie die des Vaters, aber recht gut. Unglaublich aber ist die Stimme: Joe Sumner klingt fast wie Sting und hat bis in höchste Höhen ein sagenhaftes Volumen. Von mütterlicher DNA kaum eine Spur, der Sohn klingt fast wie der Klon.
Beim vorletzten Song "King Of Pain" holt Sting ihn nochmals auf die Bühne, lässt ihn zwei Zeilen singen - es ist fast wie ein Duett mit sich selbst. Dann reiht sich Joe Sumner bei den Background-Sängern ein und singt mit ihnen die Chorpassagen des letzten Songs: "Every Breath You Take".
Als die Musiker danach die Bühne verlassen, sind nochmals die Zuschauer am Zuge, um die Zugaben einzufordern, die Sting mit "Roxanne" und "Fragile" spielen wird, und, ja, um endlich nochmal auszudrücken, was sie von ihm und seinem Konzert halten: Lauter können 6000 Menschen bei einem Schlussapplaus schwerlich sein.