So nett wie Simon Rattle ist Bruckner nicht
Feierlich, wie von Anton Bruckner gewünscht, war der Beginn der Neunten nicht. "Misterioso"-Stimmung? Fehlanzeige. Und weil der vom Komponisten gewünschte Piano-Einsatz der ersten Motivfragmente über dem Streichertremolo offenbar unspielbar ist, kann man über das hier bereits erreichte Mezzoforte nur resignierend die Achsel zucken: Es geht halt nicht. Aber muss gleich das erste Fortissimo in der Isarphilharmonie eine Lautstärke erreichen, nach der kaum mehr eine Steigerung möglich scheint?
Simon Rattle hat sich bisher kaum für Bruckner interessiert. Seine wenigen Aufführungen und Einspielungen haben auch wenig Eindruck hinterlassen. In München trifft er nun auf eine starke Bruckner-Konkurrenz und -Tradition. Und da muss man nüchtern feststellen: An die bis ins Letzte ausgefeilte Aufführung der gleichen Symphonie Anfang September mit den Münchner Philharmonikern unter ihrem designierten Chef Lahav Shani reichte Rattles Neunte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nicht heran. Und zwar nicht einmal entfernt, weil der Dirigent nicht deutlich machen kann, was ihn an dieser Musik interessiert.
Zu nüchtern und zu glatt
Shani nahm sich Zeit und ließ jede Linie gleichsam improvisiert entstehen. Rattle wählte rasche Tempi. Was nicht falsch sein muss. Aber es sollte etwas entstehen - beispielsweise eine Dramaturgie des Konflikts. Und nicht nur hurtige Oberflächlichkeit.

Rattle ließ auch Stellen vorübergleiten, die einen ausgewiesenen Mahler-Dirigenten wie ihn interessieren müssten: die fahle, trauermarschartige Episode mit den gestopften Hörnern nach dem Durchbruch des Hauptthemas in der Durchführung etwa. Immerhin hob er danach den schattenhaften Zerfall des Triolenmotivs ein paar Partiturseiten später hervor, bei dem er das Tempo zurücknahm.
Aber danach ging es gleich wieder sehr nüchtern und zugegebenermaßen auch sehr transparent weiter. Im Scherzo erwies sich Rattles Desinteresse am Schwergewichtigen als Gewinn. Im Adagio hob Rattle zwar die schrille Dissonanz auf dem Satzhöhepunkt hervor. Aber der zu diesem Schmerzens- und Verzweiflungsschrei führende Prozess wurde nicht deutlich.
Ein grundsätzliches Missverständnis?
Stattdessen gab es viel Schönklang, G-Saiten-Sonorität, Bläsermacht und allerlei anderen Vorführungen orchestraler Qualitäten, die zumindest am ersten Abend sehr selbstzweckhaft wirkten. Bruckners zerstörerische Energie und seine Greisen-Radikalität machte Rattle nicht hörbar. Alles blieb nett und verbindlich, hell und freundlich. Was auch immer Bruckners Musik bedeuten mag: Das ist sie gewiss nicht.
Womöglich handelt es sich um ein grundsätzliches Missverständnis. Vor der Pause ordnete Rattle die Neunte als eine Art Missing Link zwischen Wagner und György Ligetis "Atmosphères" ein - lauter Werke, die vor allem auf Klang setzen und weniger auf Konflikt - Weberns Orchesterstücke op. 8 einmal ausgenommen.

Hier motivierte Rattle die Musikerinnen und Musiker zu höchster Subtilität - das etwas rohe Blech-Fortissimo im "Lohengrin"-Vorspiel ausgenommen. Beim Vorspiel und dem Liebestod aus "Tristan" fand Rattle zu einem symphonischen Bogen, der seinen bisherigen Bemühungen um diese Stücke abging.
Weshalb man die Hoffnung nicht aufgeben sollte, dass auch bei Bruckner der Knoten platzt. Auch Rattles Vorgänger Mariss Jansons brauchte dafür einige weniger gelungene Aufführungen.
Das Konzert als Video- und Audiostream bei BR Klassik