So ist die neue CD von Anna Netrebko

Anrührende Menschlichkeit: Anna Netrebko hat mit Daniel Barenboim die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss auf CD eingespielt
von  Michael Bastian Weiß

Manchmal hört man sogar eine Anna Netrebko tief Luft holen, damit sie einen Melodiebogen auf einem Atem singen kann. So breit sind die Tempi, die Daniel Barenboim in diesem Konzert vom August dieses Jahres wählte, das hier als Mitschnitt vorgelegt wird. Nicht, dass die Sopranistin bei Strauss' „Vier letzten Liedern“ etwa an irgendwelche Grenzen stoßen würde; davor bewahrt sie schon ihre absolut sichere Technik und die Kunst der sinnfälligen Phrasierung. Gleichzeitig war ihre Stimme nie dunkler als heute: ein stark wirkendes Narkotikum. Die Russin hat aber mittlerweile noch eine merkliche Reife dazu gewonnen, welche diesen Abgesängen eines greisen Genies anrührende menschliche Glaubwürdigkeit verleihen.

Dass also diese Interpretation eine solche Tiefe aufbrechen lässt, hebt sie aus der Fülle der exzellenten Einspielungen heraus. Am Pult der Staatskapelle Berlin geht Barenboim auf's Ganze. Er macht auch die Erdenschwere dieser Lieder erfahrbar. Und seiner Sängerin mutet er zu, ihr Organ voll auszuschöpfen und dabei auch ihre Physis, ihre Körperlichkeit zu offenbaren.

Die Tiefe, etwa zu Beginn des „Frühlings“, wirkt geradezu schwarz, der unnachahmliche Aufschwung der Stimme, den Strauss hier komponierte, geschieht ohne Oberflächenglanz, sondern wird mit existentieller Bedeutung aufgeladen. Und „Im Abendrot“ wird in elegischem Tempo ein Abschied vom Leben gefeiert, der in keiner Sekunde ästhetisiert würde, sondern im Gesang auch und gerade Selbstzweifel und Erschrecken des singenden Subjekts hörbar macht.

Auf Augenhöhe mit Jessye Norman

Damit ist dieses Strauss-Album Anna Netrebkos, dem selbstredend maximale mediale Aufmerksamkeit zukommt, zum genauen Gegenteil eines bloßen Starvehikels geworden. Es wurde vielmehr eine wichtige und ernste Deutung vorgelegt. Der Kenner dieser Gesänge wird vielleicht am ehesten noch an Jessye Normans berühmte Philips-Aufnahme aus den frühen 1980er Jahren denken, wobei Barenboims aktuelles Dirigat das ältere Kurt Masurs sowohl an orchestraler Brillanz wie auch an kammermusikalischer Durchhörbarkeit deutlich übertrifft; dies gilt auch für die ergänzende Aufnahme des „Heldenlebens“, die mehr luxuriös als überschäumend gehalten ist.

Der künstlerischen Höhe dieser Version der Strauss-Lieder kommt nicht zuletzt auch im Lichte der Ereignisse der jüngeren Vergangenheit besondere Bedeutung zu. Anna Netrebko hatte ja wegen künstlerischer Differenzen mit dem Regisseur Hans Neuenfels die Münchner „Manon Lescaut“-Premiere abgesagt und stand deshalb in der Kritik.

In diesem hier dokumentierten Konzert beweist die Sängerin hingegen, dass sie sich auch auf eine schwierige Deutung voll einlässt – wenn ihr diese nur, was man Barenboim wie Neuenfels wohl bescheinigen muss, als künstlerisch wohlbegründet erscheint. Beim Anhören dieser Platte wirkt ihre Absage noch rätselhafter.

Richard Strauss: „Vier letzte Lieder; Ein Heldenleben“; Anna Netrebko, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim (Konzertmitschnitt), Deutsche Grammophon

 

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