Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker - eine Bilanz

Am Beginn der letzten Saison unter Simon Rattle gastieren die Berliner Philharmoniker bei den Salzburger Festspielen
von  Michael Bastian Weiß
Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker im Großen Festspielhaus.
Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker im Großen Festspielhaus. © Marco Borelli

Zwei kleine Beobachtungen aus den beiden Salzburger Konzerten der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle: Der Bassist Florian Boesch hat eine längere Passage in Haydns „Schöpfung“ grandios gestaltet, der Dirigent berührt ihn kurz, dankbar, am Arm: Genau so! Zwischen den Sätzen einer Symphonie von Dmitri Schostakowitsch quäkt im Großen Festspielhaus ein Mobiltelefon los, Rattle dreht sich auf dem Podium um und lächelt freundlich: Nicht so schlimm! Eine liebenswürdige Geste, wenn etwas gelingt, Nachsicht, wo man eigentlich ausfällig werden müsste: Sir Simon verbreitet auf dem Podium Harmonie und Freude. Und nichts soll sie stören.

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Am Anfang der letzten Berliner Saison Rattles ist es Zeit für ein Resümée, und die beiden Salzburger Gastspiele, in denen er einen Bogen schlägt von Joseph Haydn bis in die unmittelbare Zeitgenossenschaft, sind dafür ein guter Anlass.
Seit 2002 ist der gebürtige Liverpooler Chef der Berliner Philharmoniker. Während das Eliteorchester unter seinem Vorgänger Claudio Abbado nur bedingt glücklich war, führte Rattle das City of Birmingham Symphony Orchestra zu künstlerischer Blüte. Er war also bei Amtsantritt nicht nur ein einfallsreicher Kopf mit riesigem Repertoire, das die amerikanische Operette und Big Band-Musik einschließt, sondern wohlgemerkt auch ein ausgewiesener Orchestererzieher.

Mehr Birmingham als Berlin

In der Tat hat er die Berliner stark geprägt. Das traditionsreiche Ensemble (Furtwängler! Karajan!) musste dabei allerdings auch viel von seiner spezifischen Kultur preisgeben. Es ist nur leicht übertrieben zu sagen, dass das Orchester heute mehr nach Birmingham klingt als nach Berlin.

Denn besonders den Klang hat Rattle tiefgehend verändert, er strahlt in den beiden Symphonien von Dmitri Schostakowitsch außerordentlich hell und ist meist bis auf den Grund transparent. Wie immer, wenn alles ans Licht gezerrt wird, geht aber auch die Magie verloren.

Der intelligente Programmacher Rattle hat die erste und die letzte Symphonie von Schostakowitsch ausgewählt, doch sein rhythmisch dominierter Stil passt nicht gleich gut zu beiden. Dass in der ersten Symphonie f-moll Bezüge auf die russische und deutsche Tradition vorliegen, wird ausgeblendet. Auch die Zitate aus Wagners „Ring“, welche die Symphonie Nr. 15 so rätselhaft machen, wirken, so prosaisch gespielt, noch deplatzierter als sonst. Gleichzeitig, das ist eine von Rattles Stärken, sind die vielen kargen Passagen kammermusikalisch konzentriert ausmusiziert.

Unbekümmerte Spielfreude

Irritierend ist wiederum, wie wenig der Engländer bei vollem Orchesterspiel auf Präzision achtet. Gleich, ob er es nicht will oder nicht kann, ist es doch eine Nachricht wert, dass die Blechbläser mehrmals klappernd einsetzen oder dass das Tutti pauschal gerät. Gerade innerhalb einer erwartbar überschaubaren Besetzung, wie Rattle sie für Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ benutzt, sollte es nicht passieren, dass immer wieder Holzbläserstimmen untergehen.

Die grassierende Spielfreude wirkt hier allzu unbekümmert. Durch weitgehenden Verzicht auf Vibrato allein wird halt selbst aus den Berliner Philharmonikern kein genuines Alte-Musik-Ensemble. Die Atmosphäre des Ungeplanten erfasst auch den Chor. Alte und Bässe sind im an sich so renommierten Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars) unterrepräsentiert, die Klangtotale erscheint flatterhaft, was den Chören der „Schöpfung“ nicht gerecht wird.

Auch die Gesangssolisten bilden kein Ensemble. Viel zu unterschiedlich gestalten sie ihre Partien. Der bassistische Charismatiker Florian Boesch fällt heraus, wenn er bei der Erschaffung der Tiere das „Gewürm“ grässlich herausplatzen lässt, was das Publikum zum Lachen bringt.

Nicht nur unterscheidet Boesch, für den Hörer verständnisfördernd, anschaulich zwischen Erzählung und dem Wort Gottes. Der österreichische Sänger, ein geborener Gestalter, entdeckt im Kontrast auch die Ironie: wenn nämlich dem Weltenschöpfer alles fast schon zu leicht von der Hand geht und es dann auch noch quasi einfach super ist. Wieder Lacher im Publikum.

Mit einer solchen Darstellung können die Sopranistin Elsa Dreisig, die neben leuchtenden Spitzen auch beachtlich viel stimmliche Substanz einsetzt, und der Tenor Mark Padmore mit seinen unruhigen Linien, schlicht nicht mithalten. Das erwähnte Sonderlob durch den Dirigenten bekommt denn auch nur Boesch.

Dessen Ironisierung liegt Sir Simon eben. Das Werk selbst aber ächzt unter den divergierenden stilistischen Einflüssen zwischen Historisieren und postmoderner Spaßmacherei.

Freude am Musizieren

Ins Bild fügt sich, dass das vorangestellte neue Stück von Georg Friedrich Haas mit dem orthographisch auffälligen Titel „ein kleines symphonisches Gedicht – für Wolfgang“ erklärtermaßen zu Haydn keinen Bezug hat. Die wenig innovativen Neue-Musik-Gesten, mit denen Haas arbeitet, scheinen dem Pioniergeist des älteren Kollegen sogar eher zu widersprechen. Natürlich können die Berliner das spielen, doch die Sorglosigkeit in der Kopplung der beiden Werke rächt sich, weil sie keinen Sinn ergibt.

Wenn als stärkste Erinnerung an die Ära Rattle die Freude am Musizieren zurückbleibt, ist das ja kein schlechtes Ergebnis. Doch Leichtigkeit ist in der Musik nicht alles. Es ist daher verständlich, wenn viele Hörer hoffen, dass mit dem designierten neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko wieder ein wenig mehr Ernsthaftigkeit bei den Berlinern einzieht. Und, nicht zuletzt: Klangsinn.

Simon Rattle dirigiert am 25. und 26. Januar das Symphonieorchester des BR mit Werken von Schumann und Mahler im Herkulessaal. Karten ab 19. September bei www.shop.br-ticket.de

 

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