Simon Rattle: Kein symphonisches Fett ansetzen!
Im Jahr 2023, wenn Sir Simon Rattle nach München kommt, wird die Pandemie hoffentlich vorbei sein. Sicherlich wird es dann ein richtiges Antrittskonzert geben. Insofern war das Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, das sein designierter Chefdirigent jüngst für eine Aufzeichnung leitete, kein vorgezogener Einstand.
Aber ein willkommener Gruß an das Publikum, das einstweilen nur zuhause am Bildschirm zuschauen kann.
Simon Rattles Dirigat macht Appetit auf mehr
Wie Rattle die Musik von Igor Strawinsky dirigiert, macht Appetit auf mehr. Taktwechsel und komplizierte Metren gehen dem gelernten Schlagzeuger leicht von der Hand. Er fasst sie in den kurzen "Symphonien für Blasinstrumente" organisch auf, als naturhafte Unregelmäßigkeit, nicht als Störung.
Wenn er die vielen Zäsuren, an denen die Musik eigentlich kurz unterbrochen werden müsste, zugunsten eines fließenden Legatos übergeht, nivelliert er die Widerspenstigkeit des Komponisten zwar ein bisschen.
Doch die entspannte Art, mit der Rattle das Bläserensemble koordiniert, verschafft den exzellenten BR-Solisten auch Raum für einen runden, in verschiedenen Grautönen abschattierten Gesamtklang in sensationell reiner Intonation.
Rattle gilt als Spezialist für Joseph Haydn. Der Symphonie Nr. 90 C-Dur ist aber mit bloßer Lockerheit nicht beizukommen. Rattle müsste hier Streicher und Bläser, die auf der Bühne des Herkulessaals in großen Abständen sitzen, mit eindeutigem Schlag besser zusammenhalten; auch bei den exponierten Streichergruppen darf man nicht immer genau hinhören.
Dazu neigt Rattle zur Verniedlichung. Das Tutti, immerhin mit Pauken und Trompeten bestückt, darf nur bescheiden, ja, geduckt auftreten, über die Passagen, in denen der späte Haydn ein charakteristisches Unbehagen ausdrückt, geht Rattle verharmlosend hinweg.
Verdickte Instrumentation bei Brahms
Während das die Vorfreude auf 2023 wieder ein wenig dämpft, muss man Rattles Umgang mit der deutschen Romantik vollends als reine Geschmackssache bezeichnen. In seiner Serenade Nr. 2 hat Johannes Brahms die Violinen ausgespart, wodurch sich die Instrumentation zur Mitte hin verdickt. Rattle wäre nicht er selbst, wenn er dem symphonischen Leib gleichsam erlauben würde, Fett anzusetzen.
Stattdessen lässt er ihn entspannt seine Runden joggen: mehr fit als sinnlich. Und immer mit einem Lächeln.
Beim Verbeugen am Schluss ruft Rattle die Bläsersolisten Henrik (Wiese, Flöte) und Stefan (Schilli, Oboe) mit Vornamen auf. Freundschaftlich, entspannt, nur nicht zu tiefgründig: Auf diesen Stil werden wir uns einstellen können.
Das Konzert kann man in Kürze auf BR Klassik anhören und ansehen.