Sagenhafte Verdichtung
Man weiß schon, wie er auf die Bühne kommt. Kennt das Tempo seiner Schritte, die sparsame Verbeugung, den unverwandten Blick in den überfüllten Herkulessaal, überhaupt die ganze Liturgie, in der nichts aus den Fugen gerät. Und man kann einen Steinway D-274 drauf wetten, dass Grigorij Sokolov mindestens sechs Zugaben spielt, bis kurz vor elf. Immer.
Vermutlich aber brauchen alle Beteiligten diese Sicherheit, um sich vollkommen auf die Musik einlassen zu können und mehr noch: um diese sagenhafte Verdichtung auszuhalten. Alles ist durchflutet von Sokolovs Maß, keine Note überlässt er dem Zufall, dem Spiel-„Flow“. Nicht einmal in den rasant perlenden Läufen des Scherzos aus Chopins dritter, der h-moll-Sonate, in der er majestätische Wucht und sensibelste Intimität bezwingend ineinander fließen lässt. Und dabei gleichwohl eindeutige Konturen formt.
Man spürt die Kraft, das Gewicht, doch nie wird etwas schwer bei Sokolov. Weder im finalen Agitato (da gäb’s genug Gelegenheiten, in die Tasten zu hauen). Noch in den zehn Mazurkas aus verschiedenen Schaffensphasen. Der 63-Jährige lässt das innere Auge sehnsuchtsvoll wehmütig, aber fern jeder Larmoyanz in eine schier endlose Ferne schweifen (besonders in op. 68 Nr. 2 und 4). So wie es Schuberts Winterwanderer – hier allerdings im seidenschimmernden Rock – ins Ungewisse zieht. Die Komponisten sind sich eh erstaunlich nah, das wird im Zugabenteil höchst plausibel begründet.
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