Prozesse des Zerfalls

Finale in Salzburg: Lorin Maazel und die Wiener Philharmoniker langweilen mit Lässigkeit, das Gewandhausorchester überwältigt mit den Neunten von Mahler und Beethoven
von  Robert Braunmüller

Der Mann ist schon auf seine Weise einmalig. Vor einem halben Jahrhundert war Lorin Maazel schon berühmt genug, um mit „Le nozze di Figaro” das Kleine Festspielhaus nach einem Umbau zu eröffnen. Und noch immer steht er unermüdlich am Pult und schaut aus wie Anfang 60. Nur beim Weg dorthin merkt man das Alter ein wenig.

Leider langweilt ihn aber anscheinend manches. Wie etwa Wagners „Siegfried”-Idyll, das auch die Wiener Philharmoniker kaum interessierte. Die strohigen Violinen verschmierten ihre Triller, der Klarinettist war von seinem Solo fadisiert und die Riesenbesetzung überzeugte auch nicht wirklich.

Nach der Pause präsidierte Maazel noch immer die Musik, statt sie zu gestalten. Aber er kochte die Spannung im ersten Akt der „Walküre” langsam bis zum Schmelzpunkt des Orchesternachspiels hoch. Beim Ziehen des Schwerts aus der Esche hatte man zwar nicht den Eindruck, dass sich Maazel irgendwie bei der Probe für den Klang interessiert hätte, aber solche Kleinigkeiten spielten keine Rolle.

Peter Seifferts heller, metallischer Tenor passte zwar nicht wirklich zum Siegmund, und tiefe Stellen wie „Tief in des Busens Berge glimmt nur noch lichtlose Glut” waren kaum schön zu nennen. Bei Eva-Maria Westbroek sind zwar nicht alle Töne schön, aber ihre Intensität ist einfach mitreißend. Und Matti Salminen ist zwar nur halb so lang im Hunding-Geschäft wie Maazel als Dirigent, aber immer noch eine Wucht.

Die Wiener Philharmoniker werden vom Publikum geliebt und sonnen sich auch bei mäßigen Konzerten in dem Gefühl, für ihre Berühmtheit berühmt zu sein. Richtig ins Zeug legen sich bei den Salzburger Festspielen aber die Gäste wie das Gewandhausorchester, für die ein solcher Auftritt der Höhepunkt einer Saison ist. Die Leipziger präsentierten sich mit einer geerdeten Brillanz, die in Deutschland nur noch mit den Berliner Philharmonikern oder dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks vergleichbar ist. Die Nachbarn von der Staatskapelle Dresden können da – hörbar etwa bei den Osterfestspielen – nicht mehr mithalten.

Riccardo Chailly, der nun bis 2020 verlängerte Gewandhauskapellmeister, ist das genaue Gegenteil zum lässigen Maazel – ein genauer und skrupulöser Arbeiter, der jeden Takt bewusst gestalten lässt. Bei Mahlers Neunter, aufgeführt ohne Überschwang und Weltschmerz, überzeugte schon in den ersten Takten die Genauigkeit, mit der den ersten tastenden Tönen im Horn und in den Celli ein echtes Forte der Harfe antwortete. Chailly arbeitete den Zerfallsprozess der Themen präzise heraus, sorgte für klangliche Trennschärfe und mied das Bad im Weltschmerz, das einem Mahler-Aufführungen schnell verleiden kann.

Aber es ging 24 Stunden später noch besser: in einer denkwürdigen Aufführung von Beethovens Neunter mit dem Wiener Singverein. Auch hier überwältigte der Gestaltungswille, mit dem jeder Takt alt und doch so neu erklang. Chailly schärfte das Drama des ersten Satzes durch ein drängendes Tempo, ohne die Farbigkeit und den Ausdrucksreichtum zu vernachlässigen, spielte die Wiederholungen im Scherzo als Steigerung und den langsamen Satz als Insel der verklärten Ruhe.

Das bekommen andere Dirigenten auch hin. Aber Chailly bewältigte auch den letzten Satz. René Pape rief streng, fast autoritär, nach den „anderen Tönen”, Roberto Sacca ging bei seinem Siegeslauf ausnahmsweise nicht verloren, Luba Organasova (Sopran) und Gerhild Romberger (Alt) ergänzten das Solistenensemble. Der Wiener Singverein und das Orchester geizten nicht mit Kraft, aber dennoch blieben alle Nebenstimmen hörbar. Eine reiche, enthusiastische, fast militante Aufführung dieses Satzes – und ein Glücksmoment für alle, die es hören durften.

Eine Gesamtaufnahme aller Beethoven-Symphonien mit dem Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly erschien 2011 bei Decca.

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