Pianist Julian Libeer im Interview: "Zum Glück haben wir Bach"

München - Auf seiner neuen Doppel-CD "A Well-Tempered Conversation" koppelt Julien Libeer Präludien und Fugen in Dur aus dem ersten Teil vom "Wohltemperierten Klavier" von Johann Sebastian Bach mit zwölf Moll-Stücken anderer Komponisten.
Die Erwählten sind: Mozart und Beethoven, Chopin und Brahms, Ferruccio Busoni und Max Reger, Gabriel Fauré und Maurice Ravel, Sergei Rachmaninow und Dmitri Schostakowitsch, Arnold Schönberg und György Ligeti. Am Freitag präsentiert der 35-jährige Belgier dieses Programm in der Allerheiligenhofkirche. Das Konzert sollte schon im Februar stattfinden, musste aber Corona-bedingt verschoben werden.
Julian Libeer: "Eine Art Puzzle ist entstanden, zwischen Tonarten und Zeiten"
AZ: Herr Libeer, was sagt die Werkauswahl der neuen CD über Sie selbst aus?
JULIEN LIBEER: Ich habe nur Werke ausgewählt, die mir wirklich sehr gefallen und die ich genieße. Es ist mein erstes komplexes Konzept-Album. Eine Art Puzzle ist entstanden, zwischen Tonarten und Zeiten. Die Stücke sollten gemeinsam eine organische Erzählung entwickeln. Ich wollte keine bloße musikalische Illustration einer historischen Idee. Das wäre zu langweilig. Auch deswegen habe ich nicht Robert Schumann, Felix Mendelssohn oder Franz Liszt aufgenommen.
Libeer: "Ich habe kein Problem mit zeitgenössischer Musik"
Obwohl sie sehr gut gepasst hätten.
Natürlich, und ich liebe sehr, aber: Es gibt von ihnen keine Stücke, die gut funktioniert hätten. Entweder sie waren zu lang oder in der falschen Tonart. Für diese spezifische Erzählung musste ich mich beschränken.
Wobei auch lebende Komponisten fehlen. Haben Sie ein Problem mit zeitgenössischer Musik?
Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zur westeuropäischen Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre, aber kein Problem mit zeitgenössischer Musik. Bei diesem Konzept-Album habe ich das noch nicht getan, weil das noch kommen soll. Für einen zweiten Teil dieses Projekts möchte ich die Präludien und Fugen in Moll aus dem ersten Band von Bachs "Wohltemperierten Klavier" mit zwölf Werken lebender Komponisten kombinieren, die ich in Auftrag gebe. Der jetzige erste Teil richtet das Augenmerk auf die Vergangenheit, danach soll das Heute kommen.
"Als ich Teenager war, wurde die EU noch als etwas Positives gesehen"
Warum hadern Sie mit der Nachkriegs-Avantgarde?
Das geht über die Musik hinaus. Diese Nachkriegszeit war geprägt von großen sozialen, geistigen, politischen Transformationen. Natürlich war sie außerordentlich einflussreich. Wie wir heute leben, ist auch das Ergebnis dieser Jahre: beispielsweise die Europäische Union. Ein Teil der damaligen Musikkultur nimmt darauf Bezug, in dem Sinn, dass sie ganz anders war als alles zuvor. Das führt zur Frage, wie wir mit einer Musik umgehen können, die vorbei ist: nicht nur zeitlich, sondern auch mental. Ich wäre damals gerne dabei gewesen. Nun mag man befinden, dass wir auch heute in ähnlichen Transformationsprozessen stecken.
Sie erscheinen aber keineswegs so positiv im Sinn einer Aufbruchsstimmung wie damals. Rund um die Ukraine ist ein neuer Ost-West-Konflikt entbrannt, der jetzt zum Krieg geworden ist. Es gab zudem den Brexit, und in manchen EU-Ländern regieren Nationalisten.
Ja, und wir wissen nicht, wie wir mit diesen Entwicklungen umgehen sollen. Als ich Teenager war, wurde die EU noch als etwas Positives, vorwärts Gewandtes gesehen. Heute scheinen der Staatenbund und seine Institutionen in der Defensive, und Grundüberzeugungen werden infrage gestellt. Die Pandemie hat da natürlich nicht geholfen. Aber zum Glück haben wir die Musik von Bach.
"Wenn ich ein Konzert gebe, spiele ich immer mit meinem Hausschlüssel in der Tasche"
Hübscher Übergang, aber: Sie sind Vater. Sorgen Sie sich nicht um die Zukunft Ihres Kindes?
Klar, meine Tochter ist jetzt zweieinhalb Jahre jung. Aber wissen Sie: Wenn mich dieses wunderbare Geschöpf anstrahlt, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass irgendetwas für sie schief gehen wird. Das eigene Zuhause ist wie eine Blase, in die die Probleme der Außenwelt nicht wirklich eindringen. Wenn ich ein Konzert gebe, spiele ich immer mit meinem Hausschlüssel in der Tasche. Weil es mich daran erinnert: Was immer auf der Bühne passiert oder passieren kann, ob ich einen guten oder schlechten Tag habe, mich gut oder unwohl fühle, es gibt dieses Haus, für das dieser Schlüssel passt. Ich mag 100 oder 1.000 Kilometer entfernt sein, aber dahin kann ich stets zurück. Das Wissen um dieses Zuhause hilft mir sehr und tut mir gut.
Für die aktuelle CD haben Sie ein spezielles Klavier benutzt, das 2013 von Chris Maene in Auftrag von Daniel Barenboim entworfen wurde. Die Saiten verlaufen parallel, womit der Klangeindruck hybrider wird: zwischen modern und historisch informiert. Was bringt das?
Was ich vor allem gelernt habe, bezogen auf das Instrument: Bach hat das "Wohltemperierte Klavier" für pädagogische Unterweisungen eingesetzt. Damals gab es viele unterschiedliche Tasteninstrumente: Cembalo, Clavichord, Tafelklavier, auch das Hammerklavier oder Lautenwerk. Bei den "Goldberg-Variationen" oder den Suiten würde ich die Frage des Instruments genau eruieren, aber hier hatte Bach definitiv keine konkrete Instrumentalfarbe im Sinn. Das moderne Klavier hat ein sehr eigenes, spezielles Timbre, was das universelle Profil Bachs im Grunde verengt. Es ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, mit einer romantischen Ästhetik. Ich mag das sehr, aber: Für dieses Projekt wollte ich eine Art klangliches Kontinuum, das zwischen den Zeiten vermittelt oder über sie steht. Das Instrument der Aufnahme ist niemals zu stark, aggressiv oder brillant.
Konzert am Freitag, 29. April um 20 Uhr in der Allerheiligenhofkirche. Karten von 34 bis 48 Euro unter: www.musikerlebnis.de und bei Münchenticket- Julien Libeer: "J.S. Bach & Beyond: A Well-Tempered Conversation" (harmonia mundi, zwei CDs)