Phänomenal: Der Chor des Bayerischen Rundfunks
München - Man müsste ihn erfinden, wenn's ihn nicht schon gäbe. Denn der Chor des Bayerischen Rundfunks ist in mehrfacher Hinsicht ein Phänomen. Während sich die beiden Orchester des Senders auf die 200 Jahre zwischen Mozart und der Gegenwart beschränken, umfasst das Repertoire der 49 festangestellten Berufsängerinnen und -sänger mühelos ein halbes Jahrtausend.
Die vorbarocke Vokalmusik ist zwar kein Spezialgebiet dieses Ensembles, das sich im Bereich zwischen der Klassik und der Moderne am wohlsten fühlt. Aber wenn - vielleicht zu selten - Musik der Renaissance auf dem Programm steht, gelingen aufregende Konzerte: wie das zweite Abo-Programm der Saison unter dem Motto "Lagrime di San Pietro".

Gemeint ist damit ein Haupt- und Spätwerk von Orlando di Lasso, jenes in München wirkenden Francoflamen, der sich sein Denkmal am Promenadeplatz mit Michael Jackson teilt. Die "Lagrime di San Pietro" sind so etwas wie die "Kunst der Fuge" der geistlichen Madrigalkunst. Davon ausgehend illustrierte das von Max Hanft einstudierte und von Giovanni Antonini dirigierte Programm einen Bogen zur damaligen Moderne aus dem Umfeld der Erfindung der Oper: dem einstimmigen, die Affekte eines Texts in schroffen Kontrasten ausdeutenden Musik.
Den Kulturauftrag erfüllen
Lassos Musik erklang - historisch anfechtbar - ohne Instrumentalbegleitung. Auch über die chorische Besetzung lässt sich streiten. Aber der Chor des BR schafft es, auch etwa 45 Singende so schlank klingen zu lassen wie ein spezialisiertes Klein-Ensemble. Das warme Tutti der tiefen Stimmen ist so betörend wie die weichen Einsätze der Soprane. Und zusammen klingt alles weich, elegant und ohne jede falsche Romantisierung.
Dazwischen spielte Antoninis Ensemble Il Giardino Armonico passende Werke aus der Frühzeit der Instrumentalmusik, die sich erst von Tänzen lösen musste, um zu einem persönlichen Ausdruck zu gelangen. Nach Claudio Monteverdis "Lamento d'Arianna" in der Madrigalfassung erklang zum Schluss Giovanni Carissimis Oratorium "Jonas": ein viel zu selten gespieltes, durchaus aufregendes Gegenstück zu den ersten Opern. Nur ohne Bühne, dafür als Kopftheater mit Seesturm-Dramatik, Selbstzweifeln eines Propheten und dem Happy End der Rettung Ninives.
Hier zeigte der Chor, dass er bei aller Homogenität aus lauter exzellenten Solisten besteht. Wie gesagt: Wenn's den BR-Chor nicht schon gäbe, müsste man ihn erfinden. Und, nebenbei: Ein solches Programm, das ohne belehrend zu wirken, musikhistorisches Wissen vermittelt, erfüllt optimal den Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Senders. Und sonst singt in München - leider - auch sonst niemand Orlando di Lasso auf höchstem Niveau.