Patricia Kopatchinskja, Roger Norrinton und das RSO Stuttgart mit Beethoven und Sibelius
Wir leben in einer verrückten Kunstwelt. Wenn Calixto Bieito im Nationaltheater Beethovens „Fidelio“ inszeniert, wird der Bildungsbürger zum Wutbürger. Treibt eine Dame Ähnliches mit ihrer Geige, sind die gleichen Leute im Gasteig vor Entzücken aus dem Häuschen.
Patricia Kopatchinskaja dekonstuiert Beethovens Violinkonzert wie Regietheater. Nur leider nicht wie gutes. Sie bremst das „Allegro ma non troppo“ zum „Andante ma non tanto“ ab. Keine zwei Takte bleibt das Tempo gleich. Und zwar in der allererwartbarsten Form: Soli werden verlangsamt, bei Tutti-Stellen zieht es wieder an. Die Kadenz blieb als wildes Allegro eine typische Virtuosen-Einlage samt Duett mit der Konzertmeisterin und vier Cellisten.
Diverse Tonhöhen verstand die Geigerin als Vorschläge, viele rhythmische Notenwerte blieben pure Andeutung. In der Mitte des langsamen Satzes hauchte die gebürtige Moldawierin auf ihrem Instrument ein romantisches Notturno: Beethoven als vorweggenommener Tschaikowsky. Ein paar Entdeckungen macht sie auch: Den Anfang des Finales spielt sie wirklich wie vorgeschrieben „delicatamente“, wie überhaupt der dritte Satz in seiner Vitalität noch am Genießbarsten wirkte.
Sir Roger Norrington, der als Vertreter der historisch informierten Schule angetreten war, ein striktes Tempo bei Beethoven durchzusetzen, präsidierte die Aufführung als gut gelaunter Schamane auf einem Drehstuhl. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart entdeckte ein paar Fagott-Nebenstimmen und einen Trauermarsch mit gedämpften Trompeten im Kopfsatz. Als Zugabe spielte die Kopatchinskja zwei kurze Stücke von György Kurtag, den sie für einen Witzbold hält.
Kaltwasserkur für Sibelius
Die Geigerin folgte der altmodischen Tradition, das Violinkonzert in Grübelmusik zu verwandeln und übersteigerte dies durch Kratzeffekte, die ihre Fans für urtümliche Leidenschaft halten dürften. Doch sie kultivierte leider nur alte Virtuosen-Manierismen der romantischen Schule.
Regietheater im Sinn einer aufregenden Neu-Lektüre gab es erst nach der Pause: in einer Aufführung der Symphonie Nr. 2 von Jean Sibelius, bei welcher der verschlissene Superlativ „sensationell“ angemessen ist. Die Streicher des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart verzichteten auf das übliche Vibrato. Die verdoppelten Holzbläser sorgten für einen ausgewogenen Orchesterklang.
Und plötzlich leuchtete die Sonne durch den nordischen Nebel. Norrington befreite Sibelius vom Gerücht, ein Epigone Tschaikowskys zu sein. Seine Deutung stellte das Erratische und Rätselhafte der Musik heraus, die schmucklos-karg jede Entwicklung verweigert und sich im puren Klang erfüllt. Etwa wie eine (imaginäre) Fünfzehnte von Anton Bruckner, komponiert nach einer zustimmenden Lektüre der Anti-Wagner-Polemiken Nietzsches bei einer Kaltwasserkur.
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