Oksana Lyniv im Gasteig HP8: Glasklar und energisch

München - Ein kleines Rätsel: Was haben eine romantische Solokantate, ein zeitgenössischer Reißer, eine 20 Jahre alte Streicherstudie und Richard Wagners finale Erlösungsphantasien gemeinsam? Lösung: Man ist froh, dass diese vier Werke, zu einem beziehungsreichen Programm gekoppelt, von Oksana Lyniv dirigiert werden.
Denn kaum eine andere Persönlichkeit ist derzeit so gut darin, meditative Statik, wie sie etwa Valentin Silvestrov 2002 seiner Streicher-Elegie einschrieb, hilfreich zu beleben, wie die 44-jährige, die vergangenes Jahr als erste Dirigentin in Bayreuth reüssierte.
Oksana Lyniv hat das Orchester fest im Griff
Mit ihrem glasklaren und energischen Schlag hat Oksana Lyniv jedes Orchester fest in der Hand. In "Der Zorn Gottes" von Sofia Gubaidulina aber bändigt sie mit dem Stab eine gefühlte Hundertschaft von Münchner Philharmonikern, die die Bühne der Isarphilharmonie ausfüllen bis auf den letzten Platz.
Die mittlerweile 90-jährige, in Russland geborene und in Deutschland lebende Komponistin setzt sich in diesem 2020 von Oksana Lyniv uraufgeführten Werk grandios über postmoderne Unentschiedenheiten hinweg: Eine kolossale Blechbläsermasse von allein vier Hörnern, vier Wagner- und zwei Bass-Tuben bricht im gebieterischen Unisono herein, schwillt einschüchternd an und lässt schließlich Streicher und Holzbläser in Angstschreie ausbrechen.
Eine solche Bekenntnismusik muss man mit heiligem Ernst spielen. Aber Oksana Lyniv schafft es sogar noch, des Basses Grundgewalt zu kanalisieren, ihr Zweck und Richtung zu geben, sodass diese symphonische Strafpredigt nicht an ihrem eigenen Eifer erstickt. Eine andere Art der Disziplinierung tut bei Max Reger not, dessen harmonisches Mäandern leicht ziellos ausufert.
Solistin Wiebke Lehmkuh: farbenreich und konturiert
In dem Gesang "An die Hoffnung" op. 124 führt Frau Lyniv die Philharmoniker mit Nachdruck und hält sie dennoch genügend zurück. Der Solistin Wiebke Lehmkuhl wird eine zarte Unterlage bereitet, auf der sie ihren farbenreichen, weit ausschwingenden, dabei stets konturierten Alt in vollendeter Ruhe ausbreiten kann, auch die schöne Tiefe ohne Anstrengung durchkommt.
Unterschwellige Dramatik
Die von Claudio Abbado zusammengestellte Suite aus dem "Parsifal" von Richard Wagner hatte vor einiger Zeit bereits Robin Ticciati mit dem BR-Symphonieorchester im Herkulessaal der Residenz aufgeführt. Im Gegensatz zu ihrem britischen Kollegen versenkt sich Oksana Lyniv nicht ins Mysterium, sondern verfolgt die voranschreitende Entwicklung und damit auch die unterschwellige Dramatik von Karfreitagszauber und Ritteraufzug.
Die unnachahmliche klangliche Sättigung kriegen die Münchner Philharmoniker und ihr fabelhafter Chor (Einstudierung: Andreas Herrmann) ohnehin praktisch alleine hin. Den "Parsifal" hat Oksana Lyniv in Bayreuth bislang noch nicht dirigiert. Zeit wird es!