Nie wieder – never again – plus jamais
Ist das die neue Normalität für die Orchester? Weit verteilt sitzen die Musiker des Jewish Chamber Orchestra Munich im Stockmann-Saal des Ludwig-Thoma-Hauses in Dachau, im gebührenden Mindestabstand – und natürlich ohne Publikum. Ja, es sind gravierende Einschränkungen, denen sich das Orchester unterwirft. Der Lohn für dieses Opfer ist, dass das so wichtige Gedenkkonzert zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau in Corona-Zeiten nicht ersatzlos gestrichen wurde. Mit Sondergenehmigung der Stadt hat das Jüdische Kammerorchester ein Video vorproduziert, das am Jahrestag auf der Internet-Seite der Münchner Kammerspiele gezeigt wurde und online noch einen Monat lang zur Verfügung steht.
Und siehe da: Das Experiment ist geglückt, zumal der einzige Programmpunkt geschickt gewählt wurde. Das Melodram „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ von Viktor Ullmann ist nicht nur historisch angemessen: Das etwa 25-minütige Stück gilt als das letzte Werk des Schönberg-Schülers, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Ullmann hatte es wenige Monate vor seiner Deportation in das Vernichtungslager nach der Erzählung von Rainer Maria Rilke noch in Theresienstadt, wo er zunächst gefangen war, komponiert: ursprünglich für Sprecher und Klavier, doch im Manuskript finden sich weitgehende Anweisungen für eine Instrumentierung.
Ein dunkler, bedrohlicher Ritt
Wenn man diese grauenvollen Umstände bedenkt, muss man die höchste musikalische Qualität dieser zwölf kurzen Stücke umso mehr bewundern. Sie kommt in der Fassung für Sprecher und 13 Spieler unverstellt heraus. Bei allem Reichtum der Situationen zwischen Briefszene, dunklem Ritt und traumartigen, tänzerischen Szenen macht die Musik eine ständige Atmosphäre der Bedrohung erfahrbar.
Die weite Verteilung der Musiker im Raum verstärkt den Eindruck noch, zumal Daniel Grossmann das JCOM mit sanfter Entschlossenheit leitet. Die rhythmischen Ostinati werden ohne Aggression gefügt, die Musik dessen, dem durch die Nazis höchstes Leid angetan wurde, übt selbst in den Tutti-Entladungen nie Gewalt aus. So kann sich die helle, präzise Stimme des Schauspielers Stefan Merki ohne Forcieren durchsetzen, auch, wenn er gleichzeitig mit der Musik deklamiert.
Da diese Aufnahme auch filmisch attraktiv umgesetzt wurde und von dem selten zu hörende Werk derzeit keine Aufnahme vorliegt, böte sich eine Veröffentlichung an. Dem Aufruf „Nie wieder – never again – plus jamais“, unter dem diese virtuelle Veranstaltung steht, würde das zusätzlichen Nachdruck verleihen.
Den vorproduzierten Stream kann man sich auf vimeo.com/413208300 noch einen Monat lang anschauen
- Themen:
- Münchner Kammerspiele