Neues Album von Sophie Hunger: "Mich kann keiner lieben"

Sophie Hunger hat ihr siebtes Studio-Album "Halluzinationen" in ihrer Küche in Berlin-Kreuzberg konzipiert. Dort tüftelte sie wie schon für ihren Vorgänger "Molecules" (2018) mit Synthesizern und einer Drum-Machine, mit Klavier und Gitarre. Die Lyrics schrieb sie am Küchentisch. Dabei gelang der 37-jährigen Singer-Songwriterin die Verbindung von Krautrock und Schlager, von Jazz und Chanson.
Entstanden ist musikalisch und inhaltlich eine fiebrige Fusion, die erstaunlichste Scheibe Hungers wie aus einem Guss, denn die Schweizer Queen des Avant-Pop nahm das komplette Album live an nur zwei Tagen in den legendären Abbey Road Studios auf.
"Unser formales Konzept war maximales Risiko. Da wir alles live, in einem Raum, als konsekutiven Take, das heißt die Lieder nie einzeln sondern immer das ganze Album am Stück und ohne Möglichkeit von Korrekturen oder Overdubs später einspielten, dachten wir uns: Wenn schon sterben, dann in aller Schönheit. Mit anderen Worten: Im besten Studio der Welt. Aka Abbey Road Studio 2!", sagt Sophie Hunger.
Sophie Hunger: Beatlesque Momente auf "Halluzinationen"
Hungers Mut hat sich gelohnt: "Halluzinationen" ist jetzt schon reif für die Bühnenaufführung. Der Song-Mix ist so gestaltet, dass es keiner Unterbrechungen durch frühere Hits bedarf. Das liegt auch am Aufnahme-Ort: "Es sieht drinnen noch genauso aus wie vor 50 Jahren. Ich weiß das, weil ich während des Schreibens dieses Albums überall in meiner Wohnung Bilder des Abbey Roads aus der Beatles-Zeit aufgehängt habe. Man ist sehr konzentriert, man will keine Sekunde verlieren, man wird getragen von der Bedeutung des Ortes, man wächst über sich hinaus", so Hunger.
Und es gibt tatsächlich auch einige beatlesque Momente auf "Halluzinationen", beispielsweise bei den Gesangsharmonien in "Security Check" und in "Stranger". Aber auch der musikalisch hoch-aktive Background, für den Produzent Dan Carey transzendentale Stimmungen mit Electronica Elementen zaubert, sorgt für eine manchmal geisterhafte Atmosphäre.
Dan Carey gestaltet mit technischen Feuerwerken Solo-Parts ("Alpha Venom"), verleiht mit Vinyl-Rauschen den Piano-Solos Körper ("Rote Beeten aus Arsen", "Stranger") oder arbeitet mit Echo-Effekten und lässt die Synthie-Algorithmen voll durchdrehen ("Bad Medication").
Sophie Hunger: Drastisch-poetische Passagen
Sophie Hunger erinnert damit an die Giganten des Rock: "Die Beatles haben die moderne Popmusik erfunden und fast alle Aufnahmetricks in einer analogen Form entdeckt. John Lennon hat beispielsweise den 'Reverse Tape Trick' entdeckt, weil er als Technikbanause zu Hause das Band falsch auf seinen Recorder eingesponnen hatte. Den Sound, der dabei entsteht, hört man noch heute auf vielen Hip Hop-Alben. Pioniere waren sie, die Käfer", schwärmt Hunger.
Träumend ist Sophie Hunger auf der Suche nach Wahrheit und Glück, was zu drastisch-poetischen Passagen führt: "In Deinen toten Winkeln / In Deinem Schamgefühl / In Deinem stillen Ekel / Bau ich mein Exil". Drei Lieder singt Hunger Hochdeutsch, die restlichen sieben Englisch. "Halluzinationen" überrascht mit der höchsten je gemessenen Hit-Dichte auf einem Sophie-Hunger-Album. Schon das hämmernde Album-Intro in "Liquid Air" weist darauf hin: Ein abgeklärt-souveräner Song, der das Leitmotiv der Platte vorgibt.
Sophie Hunger verbindet Lokales mit Globalem
Thematisiert wird eine Phase der Einsamkeit und Klarsicht nach einer Trennung mit Fieberträumen und Sinnestäuschungen. "Ich Granit, Du Kristall - zusammen sind wir Zucker", singt Hunger in "Finde mich", das im Frühstadium "Helvetia" hieß und übergangslos in das Titelstück übergeht. "Von Anfang an ganz ohne Zwang / Kaleidoskopische Visionen / Das Leben zieht an mir vorbei / Gewiss ich sollt' mich schonen / Halluzinationen / Ich bin Euch treu geblieben / Mich kann keiner lieben".
Sophie Hunger, die Frau mit der "rangy, smoky voice" (Mojo Magazin) verbindet wie keine andere Singer-Songwriterin Lokales mit Globalem: Dank ihrer Vielsprachigkeit dringt sie tief in verschiedene Mentalitäten ein. Sie öffnet Interpretationsräume und hat mit "Halluzinationen" ihren unverwechselbaren Stil inhaltlich und musikalisch konsequent weiterentwickelt. Und vielleicht waren es die Abbey Road Studios und die Gedanken an McCartneys Kommerz-Kompositionen ("Ob-La-Di, Ob-La-Da"), die zum Gassenhauer "Everything Is Good" geführt haben.
Sophie Hunger geht in der Pandemie in die Offensive
Doch Hungers lustige Melodie passt nicht ganz zum sarkastischen Text. Treue Fans wissen, dass Hunger oft auf Kontraste baut, dass sie der Fröhlichkeit kaum versteckt auch Bitterkeit beimischt. Das macht die Besonderheit vieler ihrer Songs aus.
Die Corona-Pandemie hat Sophie Hunger nicht deprimiert sondern motiviert: Den Lockdown hat sie in der Schweiz erlebt. In Zürich Wollishofen hat sie eine Wohnung gefunden. Da war das Album "Halluzinationen" längst im Kasten. Sie tritt oft nur kurzfristig angekündigt in Schweizer Locations auf.
Vielversprechend sind die Gigs des neugegründeten Trios Rosenmeer in der Roten Fabrik in Zürich. Hunger präsentierte brandneue Songs auf Schweizerdeutsch und hat viel Spaß mit ihren Kollegen Faber und Dino Brandao. Hunger wagt es, "I Love You" in ihrem Heimatdialekt zu intonieren. Die Drei wollen mit dem aktuellen Material bald ins Studio gehen. Sophie Hunger ist ein Beispiel für Künstlerinnen, die in der Covid-Zeit den Kopf nicht hängen lassen, sondern in die Offensive gehen und schöpferischer sind als zuvor.
Sophie Hunger: "Halluzinationen" (Caroline)