Interview

Neuer BR-Symphonieorchester-Dirigent Simon Rattle auf dem Oktoberfest: "Vorläufig ohne Lederhosn"

Dirigent Sir Simon Rattle spricht über die Wiesn in München, sein neues BR-Orchester, Bayern und seinen Besuch in der Allianz Arena beim FC Bayern.
von  Robert Braunmüller
Wie sollte es bei einem Mann der Musik anders sein? Natürlich zieht es Simon Rattle an die Drehorgel. Der neue Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks hat sichtlich Vergnügen am Trara auf dem Oktoberfest – und besonders auf der Oidn Wiesn.
Wie sollte es bei einem Mann der Musik anders sein? Natürlich zieht es Simon Rattle an die Drehorgel. Der neue Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks hat sichtlich Vergnügen am Trara auf dem Oktoberfest – und besonders auf der Oidn Wiesn. © Sigi Müller

München – Einer der Drehorgelmänner erzählt, dass er das Abschiedskonzert von Sir Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern besucht hat. Der Besitzer der großen mechanischen Orgel im Museumszelt auf der Oidn Wiesn legt für den frühen Gast extra Musik von Jacques Offenbach auf.

Am Donnerstag hat Simon Rattle sein erstes Konzert als Chef des BR-Symphonieorchesters geleitet, am Vormittag danach treffen wir den Dirigenten für ein Gespräch auf dem Oktoberfest.

AZ: Sir Simon, gibt's so etwas wie die Wiesn auch in Ihrer Heimat?
SIMON RATTLE: Manche Leute würden sagen, dass die ganze Existenz Großbritanniens ein einziges Bierfest ist. Wir sind eine Nation von Biertrinkern, aber ein Volksfest wie das Oktoberfest gibt es in Großbritannien nicht. Und das macht es auch für internationale Besucher so anziehend: Ich habe in meinem Hotel eine Menge sehr glücklicher und sehr betrunkener Wiesn-Besucher gesehen.

Simon Rattle über München: "Ich liebe den Englischen Garten, das ist ein vollkommenes Wunder"

Im Herkulessaal bei Haydns "Schöpfung" habe ich auch (nüchterne) Besucher in Tracht gesehen, die vorher offenbar auf der Wiesn waren.
Das gefällt mir, auch wenn ich vorläufig keine Lederhosn anziehen werde. Ich kenne das von den Salzburger Festspielen, wo es auch immer Besucher in Tracht gibt. Das verleiht kulturellen Veranstaltungen eine gewisse Bodenständigkeit.

Sir Simon Rattle im Museumszelt auf der Oidn Wiesn.
Sir Simon Rattle im Museumszelt auf der Oidn Wiesn. © Sigi Müller

Können Sie sich noch an Ihren ersten Besuch in München erinnern?
Ich war in den späten Achtzigern oder frühen Neunzigern mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra hier. Aber bei solchen Reisen sieht man von den Städten wegen des sehr dichten Zeitplans nicht viel. Meine Beziehung zu dieser Stadt hat vor allem mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu tun. Auch jetzt habe ich noch viel zu wenig gesehen. Aber ich liebe den Englischen Garten, mitten in der Stadt, das ist ein vollkommenes Wunder. Was ich aber schon wahrnehme, sind die großen regionalen Unterschiede in Deutschland.

Wie würden Sie die beschreiben?
Ich möchte mich vor groben Verallgemeinerungen hüten. Trotzdem: Der Süden ist weicher, man hat hier mehr Zeit. Ich mag die Direktheit und etwas raue Freundlichkeit in Hamburg und Berlin. Bei den Orchestern gibt es trotz der internationalen Musikerinnen und Musikern viele regionale Unterschiede und Traditionen. Auch in den USA spielen Orchester aus Kalifornien anders als die in New York.

Das BR-Symphonieorchester: "Es ist für uns wichtig, Verbindungen herzustellen, in ganz Bayern"

Was ist aus Ihrer Sicht die Spezialität Ihres neuen Orchesters?
Die unglaubliche Virtuosität, die so natürlich ist, weil die Musiker kein Aufheben darum machen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hat eine natürliche Wärme, Schönheit und Konzentration im Zusammenspiel- und Zusammenklang, die mich bei den Proben zur "Schöpfung" sehr bewegt hat. So entstehen dann diese Momente, die ich "quiet magic" nennen möchte. Außerdem stehen sie der Musik mit einer Demut gegenüber, was man bei Orchestern dieser Qualität selten findet.

Was mich gestern begeistert hat, ist die Mühelosigkeit, mit der das Orchester im historisch-informierten Stil spielt.
Sie sind sehr flexibel, und das ist bei einem Werk wie Haydns "Schöpfung" sehr wichtig, das auf Händel zurückgreift, aber auch auf Berlioz vorausweist.

Sie stärken in Ihrer ersten Saison die Präsenz des Orchesters in Bayern – und Sie arbeiten bei einem Symphonischen Hoagascht mit Blaskapellen. Warum ist Ihnen das wichtig?
Wir sind das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Es ist für uns wichtig, Verbindungen herzustellen – in ganz Bayern.

"Am besten hätte wohl Schostakowitsch die Wiesn vertont"

Und der Hoagascht?
Mir ist etwas peinlich, dass mir die hiesige Blasmusik-Tradition wenig bewusst war, obwohl sie auch für die Gewinnung von Musiker-Nachwuchs wichtig ist. Mehr als 100 Blasmusik-Ensembles haben sich für das Projekt beworben. Es war schwer, eine Endauswahl zu treffen, weil das spielerische Level sehr beachtlich ist. Im Juli 2024 wird ein großes Abschlusskonzert mit rund 300 Musikerinnen und Musikern stattfinden. Ensembles, die es nicht in die Endauswahl geschafft haben, besuchen uns nächste Woche bei einer Probe für Mahlers Symphonie Nr. 6.

Welche klassische Musik passt zum Oktoberfest? Mahler vielleicht?
Eher Charles Ives, wegen des gleichzeitigen Zusammenklangs vieler verschiedener Momente. Bei Mahler gibt es in den Scherzo-Sätzen einen starken Einfluss von Volksmusik. Aber am besten hätte wohl Schostakowitsch die Wiesn vertont – auch dank seiner Erfahrung als Stummfilmpianist.

Vor der Erfindung des Oktoberfests vor 200 Jahren war der Fasching die berühmteste Münchner Festsaison. Mozart hat dafür seinen "Idomeneo" komponiert, den Sie bald konzertant aufführen. Was reizt Sie daran?
Alle Mozart-Opern sind großartig, aber ich als Musiker bewundere "Idomeneo" am meisten. Man würde die Musik wegen des Einflusses der französischen Oper nicht auf den ersten Blick mit München verbinden – aber "Idomeneo" wurde vom hiesigen Kurfürsten in Auftrag gegeben.

"Wir haben als weltweit einziges Orchester dieser Klasse keine eigenen Räume"

Wie haben Sie diese Oper kennengelernt?
Als junger Musiker war ich Bernard Haitinks Assistent in Glyndebourne, und ich ließ in einem Gespräch durchblicken, dass mich diese Oper nicht besonders interessieren würde. "Manchmal bist Du ganz schön dumm", sagte Haitink zu mir. "Das ist die Lieblingsoper aller Musiker! Beschäftige Dich damit". Er hat mich auf die Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt hingewiesen. Sie hat mir die Ohren geöffnet. Außerdem habe ich durch die "Idomeneo"-Produktion von Peter Sellars in Glyndebourne meine Frau Magdalena Kožená kennengelernt.

Fußballfan Simon Rattle beim FC Bayern: "Thomas Müller war ein wunderbarer Gentleman"

Sie waren diese Woche bei der Champions League in der Allianz-Arena. Wie hat es Ihnen da gefallen?
Ich stamme aus Liverpool – einer großen Fußballstadt. Ich liebe Fußball, meine beiden Söhne auch. Die Karten waren ein Geschenk des Orchesters, meine Söhne kamen aus Berlin, Harry Kane hatte zuvor ein Trikot für mich signiert. Es war ein wunderbarer Abend, perfekt für den Tag vor dem ersten Konzert. Wir hatten wunderbare Plätze beim FC Bayern mit vielen bekannten ehemaligen Spielern um uns herum. Ich fühlte mich wie in einer großen Familie. Meine Söhne und ich waren begeistert, mit Thomas Müller sprechen zu dürfen – ein wunderbarer Gentleman.

Mochten Sie die Allianz Arena?
Obwohl 75.000 Leute hineinpassen, ist man als Zuschauer sehr nahe am Geschehen – das ist gar kein Vergleich zum Anfield in Liverpool. Allerdings scheint die An- und Abreise etwas schwierig zu sein. Viele Leute gehen 10 Minuten kurz vor Schluss – und verpassen eventuell die spannendsten Tore.

Auch bei der Isarphilharmonie braucht man, wenn man am falschen Platz sitzt, eine Weile, bis man draußen ist.
Aber das ist ein Provisorium. Das bringt mich auf ein Ihnen sicher bekanntes Thema: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist als Orchester ohne eigenen Saal ständig auf Tournee. Wir haben als weltweit einziges Orchester dieser Klasse keine eigenen Räume. Die Münchner Philharmoniker sind in der Isarphilharmonie sehr rücksichtsvolle Hausherren und sehr nette Kollegen. Aber sie haben nun einmal das Vorrecht bei der Planung. Und das bedeutet für uns immer schmerzliche Kompromisse zwischen unseren Projekten und den räumlichen Möglichkeiten finden zu müssen.

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