Neue Edition von "Who's Next"
Mit "Tommy" brachten The Who 1969 etwas Neues in die Welt: eine Rockoper. Diese machte die vier Engländer zu Superstars, und im Anschluss plante Bandleader, Gitarrist und Komponist Pete Townshend mit "Life House" ein noch ambitionierteres Konzeptwerk. Einige seiner Themen erscheinen visionär: Es ging um Umweltzerstörung, um staatliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit, um körperumspannende Anzüge, die virtuelle Erfahrungen ermöglichen, und um ein weltumspannendes Unterhaltungs-Netzwerk, sprich: eine Art Internet.
Doch wie Townshend diese hellsichtigen Gedanken und viele weitere Themen zu einer Geschichte und einem Gesamtkonzept zu verknüpfen gedachte: Das begriff niemand, am wenigsten seine Bandkollegen. "Es ist so, als versuchte ich einer Gruppe von Höhlenmenschen die Kernenergie zu erklären", klagte Townshend seiner Frau Karen, wie er sich in seiner Autobiografie erinnert. Allerdings: Seine Frau verstand ihn auch nicht.
Kein Wunder, zumal Townshends komplexes Konzept noch viele weitere Dimensionen hatte: Er ließ Workshops mit Band und Publikum veranstalten, denn auch ein musikalisches Live-Experiment sollte Teil des "Life House"-Projekts sein. Ein Film war ebenfalls geplant, dazu ein Doppelalbum.
Die Aufnahmen dafür waren allerdings das einzige, was Townshend zu Ende brachte, und das in zwei Anläufen: Die Band war 1971 in New York im Studio und wollte danach die fertigen Bänder in London mit Toningenieur Glyn Johns mischen, doch der sagte selbstbewusst, dass er die Aufnahmen besser hinbekommen würde.
Also nahm die Band alles nochmal auf, und nach getaner Arbeit wollte Townshend mit Johns die Songs in die richtige Reihenfolge bringen. Als er ihm deshalb das übergeordnete Konzept von "Life House" erklärte, hörte Glyn Johns konzentriert zu und resümierte dann: "Pete, ich habe nicht ein Wort von dem verstanden, was Du gesagt hast". Da gab Townshend auf. Nervlich angeschlagen war er ohnehin, in New York wäre er kurz zuvor fast aus einem Fenster gesprungen.
Und so setzte die Band auf Pragmatismus und ließ Glyn Johns einfach die besten Songs auswählen, brachte sie als Einzel-LP heraus und benannte diese so schlicht wie nur möglich: "Who's Next".
Pete Townshend war deprimiert über sein Scheitern, die Rockwelt aber höchst beglückt: "Who's Next" war die allerbeste Platte der Band. Die dafür ausgewähten Songs, die Townshend für sein unverstandenes Projekt geschrieben hatte, waren schlicht grandios. Und Glyn Johns hatte einen extrem fetten Sound aufs Band gebracht: Hier kamen Arena-Rock und Songwriterkunst zusammen. Zudem arbeitete Pete Townshend erstmals mit dem noch recht neuen Synthesizer und wusste damit ungleich kreativere Dinge anzustellen als seine Rockkollegen.
"Won't Get Fooled Again" sollte die Band im kommenden halben Jahrhundert bei jedem Konzert spielen. "Baba O'Riley" und "Behind Blue Eyes" wurden im Lauf der Zeit auch immer berühmter, durch den Einsatz in den "CSI"-Erfolgsserien, der zweite Song zudem durch eine miserable, aber erfolgreiche Coverversion von Limb Bizkit. Und auch weniger kanonisierte Songs von "Who's Next" wie "Going Mobile" bersten vor packenden Einfällen.
Nun ist eine neue Edition des Albums unter dem Titel "Who's Next / Life House" erschienen. Die 270 Euro teure Super Deluxe Edition enthält auf zehn CDs und einer BluRay neben dem neu gemischten Album unzählige weitere Aufnahmen, die Townshend und The Who seinerzeit aufs Band gebracht hatten: Von den 155 Aufnahmen sind 89 erstmals zu hören. Viele der Songs wurden schon in anderen Versionen veröffentlicht, und obwohl sie nicht schlecht sind, versteht man, warum Glyn Johns sie nicht für die LP ausgewählt hat. Aber es sind auch starke unbekannte Songs dabei wie die kraftvollen Balladen "Finally Over" oder "Greyhound Girl", die poppiger klangen als die Rocksongs von "Who's Next". Für das sehr schöne "There's A Fortune in These Hills" gilt das gleiche.
Beeindruckend sind auch die zahlreichen Demoversionen der Albumstücke, die der Multiinstrumentalist Townshend allein in seinem Heimstudio produzierte: Die Arrangements hatte er da schon komplett ausgetüftelt, die Demos klingen extrem ausgereift - es fehlt nur noch die berserkerhafte Umsetzung von Schlagzeuger Keith Moon und Bassist John Entwistle sowie der kraftvolle Gesang von Roger Daltrey.
Erstmals zu hören ist hier auch Townshends Demo von "Baba O'Riley" mit seiner irrwitzigen Synthesizer-Partitur. Die Aufnahme ist pophistorisch bedeutsam, denn hier entstand etwas ganz Neues. Zu Teilen dieser vorproduzierten Synthesizer-Spur spielte die Band auf dem Album und später auch live - bis heute.
Obendrein enthält das Boxset interessante alternative Versionen und Mischungen, etwa eine rein instrumentale Version von "The Song Is Over" mit Nicky Hopkins' wunderbarem Klavierspiel. Dazu gibt es zwei gut klingende Mitschnitte von Konzerten in London und San Francisco, ein hundertseitiges Buch, eine 170-seitige Graphic Novel über "Life House" sowie allerhand Memorabilia.
Diese limitierte Box lag zur Rezension nicht vor, die Songs kann man alle auf Streaming-Portalen hören. Die Volksausgabe mit zwei CDs ist hingegen ein lauer Kompromiss. Neben dem Originalalbum enthält sie zwölf weitere Aufnahmen. Lohnend sind die schöne Ballade "Mary" und die Demoaufnahme von "Getting In Tune".
Doch viele andere Stücke, etwa "Too Much Of Anything" oder die Live-Aufnahme von "Bargain" sind schon in sehr ähnlichen Versionen auf einer Neuedition von 2003 erschienen, und die Live-Aufnahme von "Time Is Passing" ist sogar identisch mit der damaligen Veröffentlichung. Hätte man nicht ein paar unveröffentlichte Aufnahmen wählen können? Das Boxset ist voll davon, schließlich hat es Pete Townshend damals nicht an Ideen gemangelt - auch wenn manche davon niemand verstand.
The Who: "Who's Next / Life House", als CD, LP, 2CDs, 4 LPs, Super Deluxe Set und digital (bei Polydor/Universal)
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