Nach dem Tod von Charlie Watts: Sie rollen einfach weiter
Angenommen, das Jenseits ist so, wie die Katholiken es sich vorstellen. Und angenommen, Charlie Watts war so, wie Fans und Feuilletonisten ihn sich vorstellen: Dann sitzt er jetzt auf einer Wolke, hört Jazz und nimmt schulterzuckend zur Kenntnis, dass die Kollegen, mit denen er 59 Jahre lang in einer Band spielte, gerade mal einen Monat nach seinem Tod wieder auf Tour gehen.
Die Rolling Stones sind wieder auf Welttournee
Auf Erden freilich ist das, so steht zu befürchten, ein großer Fehler. Am 24. August ist Watts gestorben, letzte Woche gaben die Rolling Stones ein Privatkonzert auf Einladung eines US-Milliardärs und am Sonntag nahmen sie in St. Louis ihre "No Filter"-Welttournee wieder auf.
Am Schlagzeug saß Steve Jordan, ein alter Mitstreiter von Keith Richards aus dessen Solo-Zeiten. Das Programm war das übliche, vom Opener "Street Fighting Man" über "It's Only Rock'n'Roll (But I Like It)", "Tumbling Dice" und "Miss You" bis zur letzten Zugabe "(I Can't Get No) Satisfaction".
Es wäre der richtige Zeitpunkt für einen Abgang gewesen
Dabei wäre der Tod von Charlie Watts der passende Zeitpunkt für einen würdigen Abgang der Rolling Stones gewesen - vielleicht der letzte passende. Die Losung hätte für Mick, Keith und Ronnie eben nicht "Miss You" lauten sollen - und natürlich sprach Jagger einige entsprechende Worte über den vermissten Drummer -, sondern mit ihrem allerersten Nummer-eins-Hit von 1964: "It's All Over Now".
Diese Gründe sprechen für die Tournee
Zur Einschränkung muss man zweierlei sagen: Erstens wissen wir nicht, was in den Verträgen steht und wie teuer es geworden wäre, die "No Filter"-Tour abzublasen. Sie war ja noch zu Watts' Lebzeiten mit Ersatz-Schlagzeuger Steve Jordan geplant worden.
Und zweitens: Wenn die Rest-Stones auch nach der Tour weitermachen - und noch war nichts Gegenteiliges zu hören -, werden viele Fans weiterhin Tickets kaufen, egal, ob viele andere die Entscheidung, weiter zu machen, falsch finden.
Armin-Laschet-Logik
Um in diesen Tagen Armin-Laschet-Logik zu bemühen: Selbst wenn 75,9 Prozent der Menschen den alternden Mick Jagger niemals wieder auf irgendeiner Bühne sehen wollten und nur ein rapide schwindender Teil der Stammgäste Tickets kaufen würde: Dann könnte Mick daraus dennoch - und zwar ohne jede Dreistigkeit - das Mandat ableiten, mit Keith und Ronnie eine Koalition der Zukunft zu bilden und das Stadion zu regieren.
Der Charme lag in der Unverwüstlichkeit
Nur: Der Charme der Rolling Stones lag eben - neben den Songs - von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr in ihrer Unverwüstlichkeit. Für alle Menschen unter 55 war diese Band einfach immer schon da, und mit jeder Tour wuchs das Gefühl, dass das möglicher- und unerklärlicherweise für alle Zeiten so bleiben würde.
Doch der weltweit aufrichtig betrauerte Tod von Charlie Watts hat diesen Zauber des Unverwüstlichen zerstört, das Zeitliche hat über das Überzeitliche gesiegt, und übrig bleiben drei ältere Herren, denen man jetzt sehr leicht nachsagen kann, dass sie einfach nicht aufhören können.
Das Zeitlose droht ins Unzeitgemäße zu kippen
Das Zeitlose droht ins Unzeitgemäße zu kippen, wenn Fast-Achtzigjährige nach dem Tod von einem der ihren einfach weiter die Stadion-Show durchziehen, die sie als Dreißigjährige erfunden haben, mit den gleichen Liedern und den gleichen Tanzbewegungen: Und sollte die Kondition des 78-jährigen Mick Jagger nur ein klein wenig nachlassen, droht die Show ins Lächerliche zu kippen.
Und was bedeutet es eigentlich, dass die Besetzung dieser ikonischen Band so viel austausch- und reduzierbarer ist, als wir immer vermutet hatten? Nun, blicken wir einfach auf die Konkurrenz: Für den von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer größer werdenden Ruhm der Beatles war es sicher zuträglich, dass sie nicht irgendwann als John, Paul, George & Steve daherkamen.