Livestream im Nationaltheater: Ein Hoch auf die Rauchkultur

München - Eigentlich müsste es irgendwann bimmeln, der Diener beflissen die Tür öffnen - und Oberinspektor Derrick davorstehen. Mit seinem Harry.
So atmosphärisch genau hat Axel Ranisch die Bild-Ästhetik der klassischen Fernsehserie getroffen, in der in den immergleichen Villen die immergleichen Bildungsbürgermorde passieren. Ranisch bewegt sich im Medium Film so geschmeidig wie in der Oper, dem Theater und dem Fernsehen, für das er zwar nicht bei "Derrick", wohl aber bei "Tatort" Regie geführt hat.
"Il segreto di Susanna" mit vorproduzierten stummen Filmszenen
In seiner Version des Einakters "Il segreto di Susanna" von Ermanno Wolf-Ferrari schneidet er vorproduzierte stumme Filmszenen ein, die mit dem Geschehen auf der Bühne, das per Live-Stream aus dem Nationaltheater übertragen wird, in ein reizvolles Vexierspiel treten. Gekonnt bezieht Ranisch in den Verwechslungen von Fernsehspiel und Internet-Format die Pandemiebedingungen mit ein.
"Il segreto di Susanna": Corona-kompatible Fassung
Auch das Stück selbst ist mit seinen drei Personen und dem überschaubaren Orchester Corona-kompatibel. In unter einer Stunde Spielzeit erzählt Wolf-Ferrari, halb Bayer, halb Venezianer, einen Sketch, der bei der Uraufführung anno 1909 an gleicher Stelle pikant gewirkt haben mag: Ein junger Ehemann befürchtet, dass seine Frau einen Nebenbuhler hat, weil er im Haus Zigarettenrauch wittert. Doch das Geheimnis der Susanna ist kein erotisches, sondern ein nikotinhaltiges. Am Schluss geben sich alle der Rauchkultur hin.
Was ist nur aus der Rauchkultur geworden?
Man kann verstehen, dass Axel Ranisch das verblasst Frivole aufpeppt, indem er auf der Bühne wie in den Filmschnipseln dem stummen Diener eine größere Bedeutung zuschreibt: Heiko Pinkowski, der mit Ranisch schon öfter zusammengearbeitet hat, entflieht mit dem Ehemann aus dem spießigen Wohnzimmer hinter die Bühne (Ausstattung: Katarina Ravlic/Christian Blank), knöpft ihm das Hemd auf und bläst ihm den Tabak-Qualm direkt in den Mund - in diesen Zeiten! Schlimmer noch: Es handelt sich um eine E-Zigarette. Da stockt einem doch der Atem. Was ist nur aus der Rauchkultur geworden!
Psychologische Umschwünge reaktionsschnell eingefangen
Einen Tick anstößiger wirkt die satirische Schärfe, die der Dirigent Yoel Gamzou mit dem Bayerischen Staatsorchester entfacht.
Der junge Bremer Generalmusikdirektor lässt die auf der Bühne sitzenden Musiker in eleganten Kantilenen schwelgen oder spitzzüngige Kommentare abgeben, fängt überhaupt die psychologischen Umschwünge reaktionsschnell ein und steuert mit sanftem Nachdruck auf eine gar nicht einmal so harmlose Kulmination hin.
Michael Nagy und Selene Zanetti begeistern
Deshalb ist es auch ein bisschen schade, dass in dem Moment, in dem sich das Missverständnis buchstäblich in Rauch auflöst, die Erleichterung des Grafen und das Schmunzeln der Susanna auf dem Bildschirm nicht live zu sehen sind.
In diesen Rollen haben Michael Nagy und Selene Zanetti den Konflikt fesselnd geschürt. Nagy entwickelt mit seinem dunklen Bariton eine beträchtliche dramatische Fallhöhe. Die natürliche Schwere seiner Stimme macht den Argwohn gefährlich und die rezitativische Nervosität hochmusikalisch.
Selene Zanetti ist mit ihrem opulenten Sopran eigentlich bereits eine junge Diva. Die verklärte Intensität, mit der sie am Schluss die Wonnen des Tabaks preist, bringt die Ironie dieses liebenswerten Stückes zum Schweben, leicht und flüchtig wie der blaue Dunst selbst.
Eine Zigarre gönnt sich nun: der Rezensent.
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